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Erinnerung an die DDR
Die letzte der größeren Institutionen der späten DDR hat sich verabschiedet: die PDS. Doch gibt es noch genug, was an den östlichen Nachkriegs-Sonderweg in Deutschland erinnert: ...
... die Naturschutz- Eule und den grünen Pfeil, »Außenseiter-Spitzenreiter« und das ND, zahlreiche Rotarmistengräber und hier und dort mal einen Gedenkstein für Antifaschisten. Auf andere Weise reflektieren die Vergangenheit Mauerreste, Grenzübergangsstellen und zahllose, zu Gedenkstätten umgebaute Gefängnisse. Der Eingeweihte erkennt »WBS 70« und – sehr selten anzutreffen – »B 1000«, den Womacka-Brunnen am Berliner Alex, die Weltzeituhr und das Haus an der Weberwiese. Die »Ostpro« lebt von Hallorenkugeln, »Fit« und »Florena«.
Ossis entsprechenden Alters outen sich mit der ihnen eigenen Zeitrechnung; der Ausdruck »zu DDR-Zeiten« entschlüpft nie einem Wessi-Mund. Aber darf man das so einfach vor sich hindümpeln lassen, dieses Zurückschauen, Vergleichen, Witzeln, Lamentieren?
Nein! Das muß beobachtet, gelenkt, zensiert, in den richtigen Teilen aktiviert, medial aufgewertet, didaktisch begleitet und das Verfahren – weil fraglos richtig bewerkstelligt – muß weiterempfohlen werden. Damit läßt sich richtig Geld machen und verplempern, Deutung monopolisieren, Aufsehen erregen, Karriere aufbauen ...
Freilich, nicht jedem, der besorgt fragt »Wohin treibt die DDR-Erinnerung?«, kann man billig Partei- oder private Interessen unterstellen. Doch die so betitelte Dokumentation (Vandenhoek und Ruprecht, Göttingen 2007) zeigt, wer die Erinnerung gern wohin treiben möchte. Sie gibt eine Debatte mit medialem Höhepunkt im Mai/Juni 2006 wieder.
Herausgeber sind die Mitglieder einer Expertenkommission, die im Frühjahr 2005 von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, Christina Weiss, eingesetzt wurde und die Aufgabe hatte, ein Konzept für einen dezentral organisierten Geschichtsverbund zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zu erarbeiten. Am 6. Juni 2006 stellte die unter Leitung des Potsdamer Historikers Martin Sabrow wirkende Kommission ihr Arbeitsergebnis, ein Mitte Mai entstandenes Empfehlungspapier, in einer öffentlichen Anhörung in Berlin vor.
1. Raum geben
»Historische Vergegenwärtigung und die Auseinandersetzung mit den Folgen einer belasteten Vergangenheit bilden einen nie abgeschlossenen Prozeß, der in demokratisch verfaßten Gesellschaften in ständigem Fluß bleibt und kontinuierlicher Erneuerung im gesellschaftlichen Diskurs unterliegt«, hieß es in den Empfehlungen. Die Kommission konstatierte geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Defizite und formulierte Ziele einer künftigen Ausrichtung von staatlichen Forschungs- und Gedenkvorhaben zum Thema DDR. Diese sollten für »die öffentliche Auseinandersetzung mit der DDR (ebenso wie mit der NS-Diktatur) unterschiedlichen Gesichtspunkten Raum geben« und dürften nicht »auf das Ziel einer einheitlichen oder gar geschlossenen Gesamtaussage verpflichtet werden«.1
Zugleich sei nicht nur dem natürlichen Verblassen der Bilder, sondern auch einer »drohenden ›Verinselung‹ der DDR-Geschichte im Geschichtsbewusstsein« entgegenzuwirken,2 hieß es. Der Umstand, daß die ostdeutsche Vergangenheit – nach Ansicht der Kommission – zwar vergleichsweise gut erforscht und öffentlich behandelt wird, nicht aber in eine nationale Gesamtrückschau eingefaßt ist, befriedigte. In Forschung und politischer Bildung würden überdies, so die Experten, die »Bindungskräfte« der SED-Diktatur und damit »die spannungshafte Wechselbeziehung von Herrschaft und Gesellschaft« in der DDR nur unzureichend thematisiert.3 Die Kommission empfahl, Forschung und Erinnerungspolitik künftig auf drei thematische Säulen zu stellen, die Schwerpunktbereiche »Herrschaft – Gesellschaft – Widerstand«, »Überwachung und Verfolgung« und »Teilung und Grenze«. Damit sollte auch der in der Gedenkstättenlandschaft »deutlich übergewichtigen Konzentration auf Orte der Repression und der Teilung entgegengewirkt werden«.4
Diese Gedanken fanden Zuspruch, stießen aber auch auf heftige Ablehnung und Vorwürfe, nicht zuletzt aus der Fachwelt. Auf eine »integrierte, »integrative«,»integrierende« oder »integrale« gesamtdeutsche Geschichtsschreibung (die Wahl des Adjektivs ist reine Geschmackssache) können sich die Zeithistoriker heute zwar problemlos einigen, vermag doch eine isolierte Betrachtung einzelner Momente den Anforderungen an eine moderne Nationalgeschichte nicht mehr zu genügen. Doch wie der Bewertungsmaßstab aussehen und wo er ansetzen soll, ist strittig. Während die einen auf eine idealtypische – realiter bestenfalls an die Bundesrepublik der frühen siebziger Jahre erinnernde – normative Werteskala der parlamentarischen Demokratie bundesdeutschen Zuschnitts setzen, betonen andere, darunter eben Martin Sabrow, allen Anwürfen zum Trotz, daß eine weitgehend ergebnisoffene Ausrichtung vergleichender und verbindender Fragen an die ost- und die westdeutsche Nachkriegsgeschichte im europäischen Kontext gebraucht würde. »Wer aus normativer Perspektive das Pendant des bundesdeutschen Rechtsstaats allein als ostdeutschen Unrechtsstaat zu erfassen sucht, versperrt sich den Weg zum Verständnis der Binnenlegitimation der zweiten deutschen Diktatur und für die Handlungsmotive ihrer Träger«, warnte Sabrow.5
Den von der Kommission vorgestellten Ansätzen einer neuen Gedenkpolitik schlug besonders lauter Protest entgegen,6 zuallererst von dort, wo eine Vergegenwärtigung der Sozialleistungen der DDR als »immer frecher« vorgetragene Erinnerung wahrgenommen wird 7. Martin Sabrow sah sich gezwungen, den Vorwurf der »Weichspülung« der DDR-Geschichte abzuwehren. Er wollte sich auch ganz und gar nicht zum Fürsprecher eines »mehrfach gespaltenen«, gleichwohl »gut organisierten Milieugedächtnisses früherer DDR-Eliten« abstempeln lassen, »in deren geschichtsrevisionistischer Erinnerung die DDR als Normalstaat und die Vereinigung als koloniale Unterwerfung« erscheint.8 Er erklärte – vermutlich in Abwehr solchen DDR-Elite-Gedächtnisses –, sein (und mehrheitlich der Kommission) Verständnis von Alltag in der DDR beinhalte eben »die DDR-Vergangenheit in ihrer Janusgesichtigkeit zwischen gewollter Modernität und gewordener Monstrosität«.9 Schließlich meinte Sabrow im Mai 2006 noch, der Protest sei deshalb so laut und voller Mißverständnisse, weil es um die »Deutungshoheit im Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis« gehe, und das Erinnerungsgewitter würde bald abziehen.10
Bei dieser Prognose dürfte er sich verrechnet haben, im wahrsten Sinne des Wortes. DDR-Geschichte wird mindestens noch 20 Jahre zum kommunikativen Gedächtnis der Deutschen gehören (vom Übergang zum kulturellen Gedächtnis ist in der Fachwelt mit Bezug auf die NS-Zeit die Rede). Es sei denn, da hätte wirklich einer bald die »Deutungshoheit« ein für allemal erlangt. Die untergegangene DDR-Gesellschaft öffentlich zu thematisieren bleibt schwierig. Nur sind die alten ostdeutschen Eliten heute am Kampf um Deutungshoheit kaum noch beteiligt. Die »Front« verläuft anderswo.
2. »Bindungskräfte« und »durchherrschter Alltag«
Die Bindungskräfte im SED-Staat und in der DDR-Gesellschaft thematisieren zu wollen, wird der »Sabrow-Kommission« hauptsächlich zur Last gelegt. Zugleich erfährt sie dafür aus unterschiedlichen politischen Lagern Rückenstärkung. Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) beispielsweise antwortete einer voreingenommenen Journalistin auf die Frage, »was kann der zumeist triste Alltag der Menschen in der DDR an Erkenntnissen bescheren?«: »Ich glaube, den Alltag in der DDR vertieft zu erforschen, bietet die große Chance, noch nicht ausreichend beantworteten Fragen nachzugehen: Wie funktionierten die Mechanismen der SED? Wie konnte sich die SED über Jahrzehnte halten? Warum und wie haben sich die Menschen mit dem System arrangiert? Warum haben so viele mitgemacht und andere nicht? Wie entwickelte sich die Bürgerrechtsbewegung? Das alltägliche Leben einzubeziehen, heißt ja nicht, nur eine private Idylle zu zeigen. Es geht doch gerade darum, dieses Feld nicht denen zu überlassen, die verharmlosen und – wie nach dem Zusammenbruch jeder Diktatur – nostalgisch an das vermeintlich normale Leben erinnern nach dem Motto: ›Was war denn? Wir haben gelacht und geweint, uns verliebt und gefeiert.‹«11 Das wird nicht nur in der Kommission (kleinster?) gemeinsamer Nenner gewesen sein. Ein Großteil der ehemaligen DDR-Elite, nicht nur die regimeoppositionelle, kann ein solches Anliegen mittragen. Und genau dieser geschichtskritische Minimalkonsens dürfte es sein, der andere auf die Barrikaden treibt.
Hubertus Knabe, der Leiter der Hohenschönhausener Gedenkstätte in der ehemaligen Stasi-Haftanstalt, wandte ein: »Bislang war man sich in Deutschland einig, daß der Staat in erster Linie für ein angemessenes Opfergedenken zu sorgen hat sowie das Erbe des Widerstands pflegen muß. (...) Niemand kam auf die Idee, die ›Bindungskräfte‹ des Nationalsozialismus in einem eigenen Zentrum zu behandeln.«12 – Ja, da hat er wohl recht. Aber »bislang« ist keine ausreichende Begründung für die Abwehr eines bildungspolitischen Anliegens. Und außerdem darf gefragt werden: Sollten sich in einem unterschiedlichen Umgang mit NS- und DDR-Vergangenheit denn nicht auch, ganz bewußt so offeriert, die realen, unverkennbaren Unterschiede zwischen »den zwei deutschen Diktaturen« niederschlagen?
Bemerkenswerterweise hatte die Kommission die prinzipielle Frage »Stasiknast oder Gartenzwergidylle« gar nicht gestellt; die wurde von den Kritikern der Kommission medienwirksam in die Debatte geworfen.13 Der Historiker Stefan Wolle bemerkte zu Recht, eine so gestellte Frage sei falsch gestellt. Herzustellen sei vielmehr der innere Zusammenhang »zwischen der Gartenzwergidylle, die die DDR natürlich auch gewesen ist, und diesem extrem repressiven Unterdrückungsstaat.«14 Aber das dürfte immer noch zu wenig sein. Gewiß ließen sich eine spießige Lebenswelt von DDR-Bürgern und die Anmaßung und Rücksichtslosigkeit der großen und kleinen Honeckers unter ihnen als augenfällige Negativ-Befunde einer untergegangenen Welt analytisch miteinander verknüpfen und paradigmatisch funktionalisieren. Und in einem Teil der öffentlichen Erinnerungskultur werden solche Verknüpfungen ja auch tatsächlich – genüßlich herablassend – als geistiger Höhepunkt einer Deutung von »Leben in der DDR« gefeiert und mitunter sogar staatlich honoriert. Aber beantworten sich so die Fragen des Herrn Neumann?
Die von Martin Sabrow in diversen Kommentaren formulierten Aufgaben reichen sogar über den in der Kommission erreichten Konsens hinaus und bieten sich gerade deshalb auch für weitergehende Erörterungen des historischen Gegenstandes und des methodischen Instrumentariums an. Während die Kommission in ihrem Plädoyer für mehr DDR-Alltagsgeschichte ganz selbstverständlich von DDR-Vergangenheit als einer – analog zur NS-Zeit – »belasteten Vergangenheit« spricht (siehe Eingangszitat), will der eigenständige Forscher Sabrow: »Historisierung contra Delegitimierung«.15 Ob damit der Blick so frei sein wird, wie vor Jahren schon der von Bernd Faulenbach, wird sich zeigen. Faulenbach erklärte – unter Bezugnahme auf Helmut Wiesenthal –, es hätte in der DDR »eine Spannung zwischen den Alltagserfahrungen wohl der Mehrheit auf der einen Seite und den Repressionserfahrungen einer Minderheit auf der anderen Seite« gegeben, und (so Wiesenthal) die Kontakte der DDR-Bevölkerung zu den Instanzen des SED-Staates seien »nicht durchweg von Repressionserfahrung und Ohnmachtgefühlen bestimmt« gewesen.16
Das macht den eigentlichen Unterschied in den Alltagshypothesen aus, der nicht etwa nur die Kritiker der Kommission von dieser trennt, sondern auch innerhalb der die Empfehlungen mittragenden Expertengruppe besteht. Die einen wollen, wie Neumann, die Aufmerksamkeit von »nostalgischen Erinnerungen« an das Lachen, Weinen, Lieben und Feiern als nur »vermeintlich normalem Leben« weg auf die REPRESSALIEN IM ALLTAG lenken, neben der NISCHE auch immer wieder die MAUER, vor allem aber die WIRKUNGEN DER MAUER BIS IN DIE NISCHE HINEIN untersuchen. Andere wollen den lebensweltlich prall gefüllten Raum ZWISCHEN MAUER UND NISCHE, das heißt ZWISCHEN REPRESSION UND INDIVIDUELLER VERWEIGERUNG aufspüren. Die einen suchen – in bedenklicher Affinität zu psychoanalytischen Grobrastern – nach dem DDR-Typischen im »ZUSAMMENHANG VON SEELE UND POLITIK« und postulieren, »ein zentrales Kennzeichen des Lebens in der DDR« sei es gewesen, »im Spannungsbereich zwischen offiziellem und inoffiziellem Leben den eigenen Ort auszutasten« und sich ständig zu fragen: »Wie viel Anpassung ist nötig, wie viel Widerstand ist möglich?«17 Andere sehen ein spannungs- und bewegungsreiches Kräftefeld sehr verschiedener Akteure, das mehrerer Konsense bedurfte – hergestellt nicht nur im Ergebnis ideologischer »Übermächtigung« und physischer Gewalt, sondern infolge partieller Interessenidentität, ein Feld, das Räume bot, nicht nur Nischen als Rückzugsräume, sondern Räume für mehr oder weniger eigenständiges Entscheiden und Handeln der Akteure. Ob sich der »Beherrschte« darin wirklich ständig fragen mußte, passe ich mich an oder leiste ich Widerstand, das wäre noch zu ermitteln. Inwieweit sich »in der Schule, im Betrieb, im HO-Laden, auch in der berühmten Nische (...) für jeden Einzelnen jeden Tag neu (entschied), ob er Anweisungen folgte oder widerstrebte, ob er sich begeistern ließ und andere zu begeistern suchte, ob er sich mißmutig anpaßte, widerwillig einrichtete oder vielleicht Zumutungen eigensinnig unterlief«,18 sollte doch zunächst umfassend untersucht und nicht von Fällen der Traumatisierung her pauschal diagnostiziert werden. Eine wichtige Erfahrung der NS-Forschung besagt, daß Ohnmacht und Unmündigkeit gar nicht reflektiert werden müssen, solange einfache soziale Übereinkommen funktionieren. Herrschaft als ein systemprägendes soziales Arrangement zwischen den jeweiligen Machthabern und der Gesellschaft spielte sich im Europa des 20. Jahrhundert vor allem in den SphärenArbeit/Erwerb und Politik/Kommunikation ab. Wer solche sozialen Übereinkommen als »Lebenslüge« bezeichnen will und dann für die DDR vielleicht auch noch gnädig einen »ungeheuer(en) Konformitätsdruck« einräumt, da »fortdauernd und von jedem das Bekenntnis zum System eingefordert (wurde), vom Kindergarten bis zur Arbeitsstelle, im Schulaufsatz wie in der Brigade, bei Demonstrationen wie bei Wahlen«,19 macht es sich zu einfach. Er kennt weder ehrlich Beteiligte noch unpolitische Mitläufer, sondern nur Duckmäuser.
Das Argument von Hermann Wentker und Michael Schwartz, wonach die von der Sabrow-Kommission angeblich einseitig thematisierten Bindungskräfte zwischen SED-Regime und DDR-Bevölkerung ja eigentlich nur eine Forschungshypothese sind und noch keine belegte Erkenntnis und daher auch nicht in Gedenkpolitik eingehen dürfen,20 überzeugt nicht. Selbst wenn »nur« eine Hypothese formuliert wäre, warum sollte demokratisch legitimierte Erinnerungspolitik nicht offensiv damit umgehen, Erinnerungs- und Kommunikationsräume nicht zulassen, begleitende Forschung nicht finanzieren helfen? Denn gerade Fragen nach Herrschaftsverhältnissen sind doch erst im Dialog der Wissenschaft mit den Zeitzeugen in ihrer ganzen Vielfalt aufzuspüren, bevor sie wissenschaftlicher Analyse zugeführt werden können. Solche Bindungskräfte mögen für manchen nur als Hypothese annehmbar sein, doch die Behauptung, daß für den »durchherrschten Alltag (...) Ost-West-Spaltung und Mauer wichtigere(!) ›Bindungskräfte‹ darstellten als die DDR-Sozialpolitik «,21 ist dann erst recht hypothetisch.
Apropos »durchherrscht«. Im Wettstreit um griffige Vokabeln, mit denen sich Forschungsprogramme drapieren lassen, haben sich Gegner wie Befürworter der »Empfehlungen« begrifflich auf den »durchherrschten Alltag der DDR« festgelegt. Neuerdings versucht man auch, ihn in einer Art Parallelperspektive zum (nicht durchherrschten?) bundesdeutschen Alltag zu betrachten, ihn mit diesem verflochten – freilich »asymmetrisch verflochten«, was immer das heißen mag 22 – zu begreifen. Will sagen: DDR-Geschichte sollte nicht bloß neben die bundesdeutsche Geschichte gestellt, sondern in beiderseitiger historischer Beeinflussung und vor dem Hintergrund säkularer Trends gedeutet werden.
»Durchherrscht« setzt voraus, es gibt das Verb »durchherrschen«. Doch weist der DUDEN nur »herrschen« mit den Vorsilben »be« und »vor« aus. Die neue Wortschöpfung ist sinnfälliger Ausdruck verbreiteter Hilflosigkeit, die schon »Durchherrschung« hervorbrachte. Künftig wird wohl auch von Durch-Herrschern die Rede sein… Was ist denn gemeint? Daß die Herrschaftsverhältnisse in der DDR alle gesellschaftlichen Bereiche mehr oder minder stark beeinflußten, auch Verhaltensweisen im Privaten und Familiären. Doch in diesem Sinne ist jede moderne Gesellschaft »durchherrscht«, hierin muß man den Sabrow-Kritikern schon recht geben. Freilich läßt sich das nicht als Argument gegen die Alltagsforschung benutzen, und schon gar nicht lassen sich »Weichspül«-Absichten unterstellen. Einige Liebhaber des Wortes tun ja im Gegenteil sogar so, als könnten sie mit einem lautmalerisch »starken« Wort die, wie es heißt, angestrebte Totalität der Herrschaft deutlich machen. Andere gebrauchen »durchherrscht« gerade im Sinne von »nicht völlig beherrscht«. Einige meinen, mit »durchherrscht« ließe sich ausdrücken, daß diese Herrschaft nach und nach aufgebaut wurde. So soll ein sprachliches Konstrukt als Zugang zum unterschiedlich fokussierten Forschungsgegenstand dienen. Tatsächlich aber kommt hier nur terminologische Unschärfe zum Ausdruck. MaxWeber hinterließ weder eindeutige noch schlüssige Definitionen von »Macht« und »Herrschaft«, doch er kam mit diesen Worten bei seinen allgemeinen Betrachtungen in einer Weise aus, wie es in der konkreten Beschreibung des SED-Regimes heute durchaus beispielgebend sein könnte.
»Wem zum Alltag nur ›Durchherrschung‹ einfällt, der hat von der Struktur der DDR-Gesellschaft noch wenig verstanden; er sieht nur die Institutionen, nicht das Verhalten, das sie unterlief und aushöhlte «, schreibt Klaus Wolfram, der den Zugang zu widerständischem Verhalten vermißt.23 »Durchherrschung« läßt aber noch mehr vermissen, sogar im Bereich von Institutionen. Beispielsweise »Entherrschung«, um noch bei dem Ausdruck zu bleiben. »Entherrschung« als von den Machthabern gewollter Rückzug aus zuvor herrschaftlich stärker durchdrungenen oder sogar in ihrem Fortbestand bedrohten Bereichen. Rückzug im Interesse von Machterhalt, als Ergebnis von Herrschaftserfahrung, als Ausdruck von Einsicht in die Notwendigkeit, etwas mehr Freiraum für Selbstverwirklichung gewähren zu müssen, den Beherrschten nicht nur als »Zuckerbrot« gereicht, sondern in Reaktivierung eines kümmerlich zwar, aber immerhin vorhandenen emanzipatorischen Restanliegens bei den Machthabern. Nehmen wir nur die Kirchenpolitik: »Kirche im Sozialismus « – undenkbar in den 50er Jahren! Am Ende sollen die privaten Freiräume in der DDR ja größer gewesen sein als zu Beginn ... Nein, mit »durchherrschtem Alltag« wird wahrlich kein Weg zum Verständnis des DDR-Alltags vor dem Hintergrund gesamtdeutscher Geschichte geebnet.
3. Erinnern und vergleichen
Michael Schwartz und Hermann Wentker erklärten, auf DDR-Vergangenheit bezogen, der Vergleich sei »eine legitime Methode der Forschung, aber kein sinnvoller Ansatz der Erinnerungspolitik.« Es drehe sich »um die entscheidende Frage, ob eine internationale Vergleichsperspektive – jenseits ihrer wissenschaftlichen Anwendung – im Zentrum öffentlicher Erinnerung an die SED-Diktatur stehen soll. Während die Wissenschaft alle Optionen nutzen kann und soll, muß es bei öffentlichem Gedenken primär um die Würde der Opfer der SED-Diktatur gehen.«24
Die Fragen nach dem Sinn von Vergleichen in der aktuellen Erinnerungspolitik und nach dem Zweck von öffentlichem Gedenken sind keine identischen Fragen. Indes, von Schwartz und Wentker so in eine Argumentation eingebunden, lassen sie den Eindruck entstehen, die beiden sähen bei Anwendung vergleichender Fragestellungen in der Erinnerungspolitik die Würdigung von Opfern der Diktatur und von widerständischer Leistung in der DDR gefährdet. Es besteht kein Anlaß, hier erneut auf Klärung der Begriffe »Vergleichen« und »Gleichsetzen« zu drängen, denn die Verfasser der zitierten Textstelle kennen den Unterschied. Vergleichen meint bei ihnen tatsächlich vergleichen. Umso seltsamer nimmt sich das Argument aus, eine vergleichende Perspektive, gar eine internationale (keine deutsch-deutsche!), würde dem Ansehen der Opfer der DDR-Diktatur nicht gerecht werden. DieWeigerung, vergleichende Betrachtungen auch in einer – in diesem Fall auf die DDR-Geschichte bezogenen – öffentlichen Erinnerung gelten zu lassen, korrespondiert mit dem Vorwurf der Verharmlosung der DDR-Geschichte durch Alltagsgeschichte.
Zunächst erhebt sich doch die Frage, was unter Erinnerungspolitik verstanden wird. In der zitierten Gedankenführung steht sie synonym für Politik im Interesse öffentlichen Gedenkens. Es spricht aber einiges dafür, Erinnern und Gedenken voneinander zu trennen. Erinnerungspolitik als Politik, die öffentliche Rückbesinnung in politisch relevante Fragenzusammenhänge bringt und die Kommunikation entsprechend fördert, bis in den privaten Bereich hinein, muß tatsächlich ganz entschieden berücksichtigen, daß ihr Ziel nicht in einer einheitlichen oder gar geschlossenen Gesamtaussage bestehen kann (siehe Eingangszitat). Ihr oberstes Anliegen muß es – heute und bezüglich der DDR-Vergangenheit – sein, die »Spaltung des deutschen Vergangenheitsdiskurses in ein öffentliches Diktaturgedächtnis und ein privates Lebensgedächtnis« zu verhindern.25 Im öffentlichen Gedenken als politisch gelenkter, von Verantwortung getragener, öffentlicher Würdigung von Vergangenem indes, welche bestimmte Werte in der Gesellschaft festigt und Maßstäbe für heutiges Handeln setzt, wird sich politischer Wille stärker artikulieren. Erinnerungspolitik beeinflußt über Würdigungs- und Gedenkvorhaben hinaus auch Bildungspolitik, ermuntert Wissenschaft und Kunst zum Dialog. In beidem, Erinnern und Gedenken, sind Vergleiche zuzulassen, ja zu suchen. Erinnerung vergleicht, Erinnerungswissenschaft vergleicht, warum sollte Erinnerungspolitik Vergleiche ausschließen?
a) ERINNERUNG vergleicht. Sie tut dies per se, weil sie als geistiger Vorgang der Selbstvergewisserung und des Zeugnisablegens auf einen Vorrat an Begriffen, Sinngebungen und Wertungen zugreift, der dem Sozium Mensch nun einmal infolge verschiedener Denkleistungen, darunter Vergleiche, zur Verfügung steht. Oral History, der es ja primär um Erfahrung und erst in deren Kontext um Ereignisse geht, weiß das zu berücksichtigen und zu nutzen. Vergleiche machen einen Großteil unserer verbalen und bildhaften Kommunikation aus.
Wer beobachten will, wie stark die DDR in einer Vergleichsperspektive erinnert wird, braucht nicht lange zu suchen. Nicht nur die Medien, die Lehrprogramme und die politische Bildung bieten Vergleiche. Durch diese angeregt und ermuntert, suchen auch die familieninterne Überlieferung, der private Rückblick im Freundeskreis und die ganz individuelle Erinnerung stets Analogien und Unterschiede: Zwischen der alten DDR- und der neuen gesamtdeutschen Erlebniswelt, zwischen der DDR-Erfahrung und der in anderen vormaligen Ostblockländern, schließlich zunehmend und erfreulicherweise auch mit ganz weitem Blick über den europäischen Tellerrand hinaus zwischen verschiedenen modernen Gesellschaften. Nur so kann vergangenes Leben bewertet werden. Hinzu kommt, daß Erinnerung an die DDR seit deren Zusammenbruch auch die Erinnerung an DDR-Umgang mit Vergangenheit einschließt, quasi »Erinnerung an Erinnerung«. Mit ihrer Studie zur Sicht der Deutschen auf ihre NS-Vergangenheit haben die Autoren des Buches »Opa war kein Nazi« 26 vorgeführt, daß auch diese zweistufige Erinnerung an historisch lange Abgeschlossenes politisch brisant sein könnte, zumindest aber für aktuelle Kommunikations- und Identifikationsbedürfnisse im wiedervereinigten Deutschland bedeutsam ist. Erinnerung der Vergleichsperspektive zu berauben ist also schlicht unsinnig.
b) ERINNERUNGS(ERFAHRUNGS)WISSENSCHAFT vergleicht daher nicht nur, weil sie als Wissenschaft – um mit Schwartz und Wentker zu sprechen – »alle Optionen nutzen kann und soll«. Aufgabe der Erinnerungswissenschaft ist es, Faktoren und Komponenten des Erinnerns in ihrem Bedeutungswandel zu untersuchen. Sie findet – u. a. über Vergleiche – heraus, wie Milieus und Familienbande, Bildung, Beruf und Alter die Rückschau bestimmen, wie Erinnerung und Erfahrung korrespondieren. Dabei ist diese Forschung gewissermaßen von ihrem Gegenstand her auch dazu verpflichtet, unterschiedliches Erinnern nicht zuletzt als unterschiedlich vergleichendes Erinnern zu untersuchen. In bezug auf die Erinnerung an die DDR wird das heute noch zu wenig getan. Die Autoren von »Opa war kein Nazi«, beispielsweise, haben diesen Aspekt in ihrer Studie vernachlässigt. So genügt es eben nicht festzustellen, daß sich ostdeutsche Erinnerung an die DDR sehr viel häufiger des Vergleichs zur NS-Diktatur bedient, als es westdeutsche Bemerkungen zur untergegangenen DDR tun. (Obendrein schließt die Studie in unzulässiger Weise von wenigen Interviews auf »die ostdeutsche Erinnerung« und geht der Frage aus dem Weg, wie es sich auswirken kann, wenn Ostdeutsche ausschließlich von Westdeutschen befragt werden.) Den Ursachen solchen Vergleichens muß wissenschaftlich nachgegangen werden. Dafür bieten sich unter anderem Paralleluntersuchungen über Rückblicke in anderen Ländern und Kulturen an. Etwa Studien zur Erinnerung im heutigen Ungarn oder in Kroatien, wo die Konstellationen ähnlich sind, d. h. wo die Vergleichbarkeit nicht etwa durch (vermutlich) überwiegend positive, patriotische Erinnerungen an die Zeit vor dem Realsozialismus gemindert ist.
c) ERINNERUNGSPOLITIK muß all dem Rechnung tragen. Sie würde sich notwendiger Vermittlungs- und Einflußmöglichkeiten berauben, wenn sie Vergleiche nicht zuließe, Deutungen nahelegen würde, ohne auf die Vergleichbarkeit einzugehen. Unlängst hat die Politik die große Perspektive sogar zu einem neuen, wichtigen Gesichtspunkt erklärt, der die internationale Kommunikation erleichtern und Ängste im Ausland abbauen sollte: nämlich bei der Ausstellung »Erzwungene Wege« zur Geschichte von Vertreibungen. Namhafte Wissenschaftler haben das Anliegen unterstützt, und vermutlich wird die Ausstellung nun den Grundstock einer künftigen Forschungseinrichtung in Berlin bilden.
Gewiß, wie die von Politik protegierten Vergleiche ausfallen, ist eine andere Frage, und man könnte gerade die genannte Ausstellung als Beispiel dafür anführen, daß öffentlich, also politisch »geadelte« Parallelen auch bildungspolitisch kontraproduktiv sein können. Sollten Schwartz und Wentker dies im Auge gehabt haben? Kaum, denn sonst würde ihre Forderung nach mehr Opfergedenken nicht so energisch sein. Die Gefahr fehlgeleiteter Rückbesinnung besteht aber gerade beim Thema Opfer und Gewalt!
Wer heute noch mehr Würdigung für die Opfer der SED-Diktatur wünscht, scheint sich der Tatsache (und der DDR-Erfahrung) nicht bewußt zu sein, daß eine ununterbrochen auf Schrecken und Betroffenheit setzende Gedenkstättenpädagogik letzten Endes viel Überdruß erzeugt. Unter Schülern und Studenten der Bundesrepublik deutet er sich heute bereits an. Die Erziehungs- und Konfliktforschung hat das erkannt, und in einigen Gedenkstätten beginnt man, dies konzeptionell umzusetzen.27 Dagegen meinen einige Streiter für mehr Opfergedenken, die notwendige Schlußfolgerung aus zu wenig Interesse für das »SED-Unrechtsregime« seien mehr Gedenkorte und kostspieligere Inszenierungen bis hin zu zweifelhaften (weil nicht hinlänglich verifizierten) Rekonstruktionen von Stätten des Grauens.
Niemand kann ernsthaft behaupten, der Opfer der SED-Diktatur würde in der Bundesrepublik und insbesondere in den neuen Bundesländern nicht umfänglich und vielfältig gedacht. Und es ist absurd, in jedem Wunsch nach mehr Differenziertheit in den Bildern und Texten sowie nach vergleichenden Sichtweisen sofort die Tendenz zur Schönfärberei, gar eine wachsende Tendenz, zu sehen. Damit sind wir vollends bei den politischen Fragen unserer Zeit. Sie stellen sich für Wissenschaftler, die sich der DDR-Opposition und den Bürgerbewegungen zurechneten, offensichtlich auch unter dem Gesichtspunkt der Akzeptanz ihrer Widerstandsleistung. Sie müssen sich allen Wissenschaftlern aber ebenso unter dem Gesichtspunkt der Wirksamkeit ihres beruflichen Engagements stellen. Die Argumentation von Schwartz und Wentker läuft darauf hinaus, wissenschaftliche Erkenntnisse zuzulassen, sie aber – aus irgendwelchen moralischen Bedenken heraus – nicht oder nur begrenzt öffentlichkeitswirksam zu machen.
Aber es darf keine politisch motivierten Tabus für Erinnerung und keine für demokratische Erinnerungspolitik geben. Gerade falsche (verkürzte, einseitige, geschönte, verzerrte) Erinnerung braucht doch die Konfrontation nicht so sehr mit der akademischen Weisheit, als mit der anderen Erfahrung. Das muß man als Historiker aushalten können. Die letzten Jahre zeigten außerdem: Die Gefahr der Verharmlosung bei der Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur ist in erinnerungsorientierten Begegnungen von Nichtprofessionellen nicht größer als die Gefahr politisch motivierter Überzeichnung unter den Professionellen. Trivial kann es hier wie dort zugehen.
4. Öffentliches Erinnern und Gedenken
In letzter Zeit ist viel von dauerhaftem öffentlichen Erinnern die Rede. Manchen ist das nur in Form von Mahnmalen vorstellbar. Die Expertenkommission mußte sich auch dazu äußern und erklärte, es fehle an »einem Ort in der Hauptstadt, der die Machtmechanismen der SED-Diktatur und die (wechselseitige) Durchdringung von Herrschaft, Gesellschaft und Widerstand in der kommunistischen Diktatur darzustellen vermag«.28 Stärker sollten die alltäglichen Erfahrungen und Zusammenhänge thematisiert werden. Wie sollte ein solcher Ort beschaffen sein, welche Stimmung sollte er ausstrahlen?
»Fehlendes Wissen und Privatisierung der Erinnerung können nur durch eine systematische Auseinandersetzung mit der ostdeutschen Vergangenheit – auch im Kontext der westdeutschen Parallelgeschichte – überwunden bzw. ergänzt werden«, schrieb Hans-Jürgen Misselwitz bereits 2002. »Generell bedarf es dazu eines Klimas der Respektierung unterschiedlicher Erfahrungen wie unterschiedlicher politischer Kontexte – eine Grundvoraussetzung, die gerade demokratische politische Bildung in der Praxis auszeichnet. Im Unterschied zur juristischen Aufarbeitung, politischen Auseinandersetzung und öffentlichen Wertung moralisch-politischen Versagens bietet politische Bildung die Möglichkeit, im Respekt vor den und mit Einfühlungsvermögen in die geschichtlichen Umstände Einsichten zu liefern, die Betroffene und Nichtbetroffene teilen und so zum Bestandteil der kollektiven Erinnerung, zu Aspekten einer gemeinsamen Geschichte machen können.«29
Gedenkpolitik muß in eine solche politische Bildung eingebunden sein. Gedenken heißt dann zum einen POSITIVES WÜRDIGEN, heißt BESTIMMTE HALTUNGEN UND HANDLUNGEN ALS VORBILDLICHE HERAUSSTELLEN. Diktatur-Erfahrung auf Opfer-Erfahrung reduziert, ist dazu nur bedingt brauchbar, denn Herausforderungen wie im »Stasiknast« oder auf einem verminten Grenzstreifen dürfen die meisten jungen Leute heute zu Recht für sich ausschließen. Zugleich bedarf das notwendige Opfergedenken keinerMoralkeulen, die man bald nur noch routinemäßig schwenken würde. Opfergedenken heißt TRAUERN, heißt SCHULD ERKENNEN, heißt STÄNDIG AUFS NEUE NACH BEZÜGEN ZUR GEGENWART FRAGEN. Dafür soll es verschieden erlebbare Gedenkorte geben. Mit einer darüber hinausgehenden Erinnerungskultur wird der Würde der Opfer kein Abbruch getan.
Unstrittig ist, daß öffentliches Gedenken mehr als die Errichtung von Gedenkstätten und die Markierung von »Gedenkorten« sein kann und muß. Künstlerisch–Ästhetisches bleibt mehr oder minder weit verhandelbar, nicht so der Zweck einer Gedenkstätte oder eines Erinnerungsortes. Die Forderung nach Mahnmalen korrespondiert mit der oben zitierten Vorstellung, Erinnerung und öffentliches Gedächtnis hätten ausschließlich den Opfern von Gewalt und dem aktiven Widerstand zu gelten. Dabei haben Menschen in Deutschland, in West- wie Ostdeutschland, dringend auch andere Erfahrungen zu bewahren und sie an die nächsten Generationen weiterzugeben, so die im Kennenlernen anderer Kulturen, die imAushandeln von »Generationenverträgen«, die im zivilen Ungehorsam (was nicht identisch sein muß mit Opfererfahrung), die in öffentlicher Katastrophenbewältigung, die mit einer belasteten Umwelt ... Diese und andere Erfahrungen sollten als zumeist hart erarbeitete Erfahrung vermittelt werden. Und warum könnten nicht weitgehend unpolitische Lebensleistungen in der DDR als Leistungen in Lohnarbeit, selbständigem Gewerbe und Familie eine Würdigung erfahren? Die ostdeutschen Leistungen in Kunst und Architektur, Wissenschaft, Technikentwicklung und Medizin finden doch auch zunehmend wieder (!) Beachtung, selbst wenn das einigen Leuten nostalgisch vorkommt und gegen den Strich geht.
Es böte sich an, eine der zahllosen ostdeutschen Industrie-Ruinen als ein MUSEUM DER DDR-ARBEITSWELT einzurichten. Neben der Darstellung von Arbeitswegen, Berufsbekleidung und Technik, Arbeitsinhalten und -produkten (so wie sie beispielsweise das Museum der Arbeit in Hamburg ausstellt) würde ein solches Museum den DDR-Spezifika sozialer Beziehungen gerecht werden müssen und sowohl »Bindungskräfte« als auch Formen der Benachteiligung, Ausgrenzung und Repression zeigen.
In nachgestellten überalterten und in hochmodernen Hallen könnte man stupide wie auch interessante Arbeitsplätze zeigen, in Kabinetten der Partei- und der Gewerkschaftsleitung dieWettbewerbstafeln, Brigadetagebücher und Betriebszeitungen ausstellen. Planungsprozesse und Prämiensysteme wären verständlich zu machen, zugleich Folgen von Planverzug und Planbetrug. Man erführe etwas von Patenschaftsverträgen mit Schulklassen und vom »Tag in der sozialistischen Produktion«. Ein Raum wäre den Betriebsberufsschulen gewidmet, ein anderer der Frauenarbeit in meist Niedriglohn-Tätigkeit, wo aber auch auf branchenspezifische (für die Bundesrepublik untypische) Berufsausbildung und auf zunehmend mehr Frauen in mittlerer Verantwortung in Produktion und Verwaltung hinzuweisen wäre. Hier würden interne Lohnkämpfe und Privilegien der »Leitungskader« thematisiert werden. Von in die Produktion verbannten, strafversetzten Studenten wäre zu berichten, genau wie von den im Kollektiv zu erziehenden Vorbestraften, von Ernteeinsätzen und von stereotypen Demonstrationen am 1. Mai, denen sich immer mehr Menschen entzogen. Weitere Themen wären Betriebskindergärten und Betriebspolikliniken, Umweltschäden und teils fahrlässiger Arbeitsschutz, Kampfgruppen und Zivilschutz, Arbeiterfestspiele, »Solispenden « ... nicht nostalgisch verklärt dargeboten, sondern mit der gebotenen Kritik an Illusionen, ideologischer Überfrachtung, Routine und Machtmißbrauch. Wer kann sich heute schon vorstellen, wie unterschiedlich die Begegnungen mit sowjetischen Bestarbeitern in den 50er und in den 70er Jahren verliefen, wer weiß schon, was die »Schwedter Initiative« war! Muß ein Zeitgenosse das von der DDR wissen? Er sollte es erfahren können. Und er muß es wissen dürfen!
Schluß: Erinnerungspolitische Verantwortung
Die Expertenkommission hat der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur einen zentralen Platz bei der erinnerungspolitischen Neuakzentuierung eingeräumt. Doch stellt sich die Frage, ob die Konzipierung und Errichtung eines Erinnerungsortes im eben skizzierten Sinne von der Stiftung Aufarbeitung geleistet werden kann, ob sie derlei überhaupt will. Die in der Stiftung bestehenden Vorstellungen von Gedenken, dargelegt etwa im Dokumentationsprojekt »Erinnerungsorte an die kommunistischen Diktaturen im Europa des 20. Jahrhunderts« (datiert 12. 2. 2006), sind dermaßen auf Stätten der Verfolgung und des Völkermords in sogenannten kommunistischen Regimes, auf authentische Stätten des Leidens und des Widerstandes konzentriert, daß selbst das von der Expertenkommission vorgeschlagene Konzept »Herrschaft – Gesellschaft – Widerstand« nur wenig Anknüpfungspunkte findet. Die Stiftung meint, der »Topographie der Erinnerung« – auch in den jeweils nationalen und regionalen Erinnerungsdiskursen – mit Orten des Gedenkens an politische Repression und Verfolgung, an Opfer und Widerstand sowie »an die Überwindung der kommunistischen totalitären Systeme durch die Revolutionen 1989/1991« genügen zu können. Zwar gibt es hier auch erfreulich differenzierende Ansichten, wie die von Bernd Faulenbach, doch dem entsprechen die Gedenkkonzepte der Stiftung nicht. Daß die Expertenkommission und einige namhafte Befürworter ihrer Pläne die Stiftung als institutionellen Träger eines »Forums Aufarbeitung« empfahlen, wird wohl als Ausdruck eines internen Kräfteverhältnisses gewertet werden müssen, bei dem als »Erinnerung an die DDR« auch künftig vor allem Opfer- und Widerstandserfahrung gelten wird. Die geplanten »zentralen Lern- und Erinnerungsorte zur alltäglichen Diktaturerfahrung«30 werden Erfahrungen ausschließlich als Erfahrungen der Opfer der Diktatur und darüber hinaus kaum Erinnerungs- und Gedenkwürdiges vermitteln.
Ein Jahr ist seit der heftigen Debatte ins Land gegangen. Erneut sieht es so aus, als strebten in der Vergangenheitsaufarbeitung engagierte Volksvertreter endlich politische Entscheidungen an. Doch was die inhaltlichen Fragen anbelangt, besteht kein Grund zu weniger Skepsis.
Elke Scherstjanoi – Jg. 1956, Historikerin, 1980-1991 an der AdW der DDR, seit 1994 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, Forschungen zur ostdeutschen Nachkriegsgeschichte und zum deutsch-sowjetischen Verhältnis. Jüngste Publikation: »SED-Agrarpolitik unter sowjetischer Kontrolle 1949 bis 1953«, München 2007.
1 Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes »Aufarbeitung der SED-Diktatur«, in: Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, hrsg. von Martin Sabrow u. a., Göttingen 2007, S. 18-45, hier S. 21.
2 Ebenda, S. 22.
3 Ebenda, S. 31 f., 34.
4 Ebenda, S. 31.
5 Martin Sabrow: Historisierung der Zweistaatlichkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung das Parlament (APuZ B) 3/2007 v. 15. Januar 2007, S. 19-24, hier S. 23.
6 Einen zwischenzeitlichen Überblick über die Positionen der Fachwelt und den Verlauf der Debatte gab Rainer Eckert: Streit um Erinnerung und Aufarbeitung. Eine Erwiderung, in: Deutschland Archiv (39) 2006, S. 1069-1079; abgedruckt in:Wohin treibt die DDR-Erinnerung, a. a. O., S. 405-422.
7 Entgegnungen von Hubertus Knabe, Christiane Lauer und Jochen Staadt, zitiert von Werner van Bebber: CDU vermißt den emotionalen Zugang zur Mauer, in: Der Tagesspiegel 31. Mai 2006.
8 Martin Sabrow: Das letzte Donnern. Erinnerungsland DDR: Zum Streit um die Empfehlung der Expertenkommission, in: Der Tagesspiegel v. 29. Mai 2006; abgedruckt in:Wohin treibt die DDR-Erinnerung, a. a. O., S. 288-291, hier S. 290.
9 Ebenda, S. 291.
10 Ebenda.
11 Interview Renate Oschlies: DDR-Alltag – das war nicht nur die private Idylle. Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) über die umstrittenen Expertenvorschläge zur Aufarbeitung, in: Berliner Zeitung, 26. Mai 2006; abgedruckt in: Wohin treibt die DDR-Erinnerung, a. a. O., S. 286-288, Leipzig 2004, S. 18-30, hier S. 23.
12 Hubertus Knabe: Die DDR als Light-Version. Staatlich geförderte Ostalgie: Expertenkommission will die SED-Diktatur weniger grau zeichnen, in: Berliner Morgenpost v. 8. Mai 2006; abgedruckt in: Wohin treibt die DDR-Erinnerung, a. a. O., S. 193 f., hier S. 193.
13 Benedict Maria Mülder: Stasiknast oder Gartenzwergidylle? Streit um die Deutung der DDR-Geschichte, in: 3sat Kulturzeit 16. Mai 2006, abgedruckt in:Wohin treibt die DDR-Erinnerung, a. a. O., S. 260-262.
14 Ebenda, S. 261.
15 Martin Sabrow: Historisierung der Zweistaatlichkeit, a. a. O., S. 21.
16 Bernd Faulenbach: Diktaturerfahrung und demokratische Erinnerungskultur in Deutschland, in: Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR, hrsg. von Annette Kaminsky, Leipzig 2004, S. 18-30, hier S. 23.
17 Regine Igel: Das deformierte Ich (Bücherbesprechung), in: Freitag, v. 2. Februar 2007, S. 15.
18 So Martin Sabrow in einem Interview mit Henry Lohmar und Jan Sternberg, Märkische Allgemeine (Hübner), 15. Juni 2006; abgedruckt in:Wohin treibt die DDR-Erinnerung, a. a. O., S. 315-319, hier S. 316.
19 Richard Schröder: Auch wir hatten glückliche Tage – Die Wirklichkeit der DDR erfaßt nur, wer auf Grautöne achtet. Es gab ein richtiges Leben im falschen, etwa bei der Revolution 1989, in: Die Zeit, 29. Juni 2006; abgedruckt in:Wohin treibt die DDR-Erinnerung, a. a. O., S. 339-343, hier S. 341.
20 Michael Schwartz, Hermann Wentker: Kein Konsens über die Konsens- Diktatur. Zur Reaktion Martin Sabrows auf unsere Kritik an seinem DDR-Aufarbeitungskonzept, in: Deutschland Archiv 39 (2006), S. 1080-1086; abgedruckt in:Wohin treibt die DDR-Erinnerung, a. a. O., S. 422-427, hier S. 426.
21 Ebenda, S. 427.
22 In der auf Christoph Kleßmann zurückgeführten »asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte« tut sich ein weiter Raum für Sprechblasen auf. Die Politikwissenschaft kennt asymmetrisch-interdependente Aktionszusammenhänge ungleichgewichtig kooperierender Akteure, etwa in der Zusammenarbeit einer Großmacht mit einem Partner, der weniger Gewicht im Bündnis hat.Wenn das auf die DDR und die BRD Anwendung finden soll, muß geklärt werden, auf welchen Aktionszusammenhang sich denn hier »Gewicht« bezieht. Hatte der eine Teil etwa per se (wegen seiner Größe?) mehr Gewicht in der Nationalgeschichte? Begründet eine im Vergleich stärkere Volkswirtschaft mehr Gewicht in zweiseitigen Beziehungen, wenn die Abhängigkeiten der beiden Partner von Dritten und Vierten eher entscheidend sind?
23 Klaus Wolfram: Drei Defizite im Fortgang der Aufarbeitung, internetversion, www.havemann-gesellschaft.de/info233.htm-10k, Januar 2007.
24 Michael Schwartz, Hermann Wentker: Kein Konsens, in:Wohin treibt die DDR-Erinnerung, a. a. O., S. 422-427, hier S. 425.
25 Heinz Niemann:Wer jagt den rosaroten Panther? Der Historiker-Streit um die DDR: Differenzierung, Trivialisierung oder Dämonisierung, in: Neues Deutschland v. 4. November 2006, abgedruckt in:Wohin treibt die DDR-Erinnerung, a. a. O., S. 363-367, hier S. 366.
26 Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschuggnall: Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002.
27 Das wurde kürzlich auf einer Internationalen Begegnung zur Zeitgeschichte (Berlin-Brandenburgisches Forum zur zeitgeschichtlichen Bildung), veranstaltet von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, deutlich. Hier überzeugte insbesondere der Vortrag »Gewaltbelastete Geschichte – Herausforderung für die Gegenwart« von Jörg Lüer, Generalsekretär der Deutschen Kommission Justitia et Pax, Berlin, am 24. November 2006.
28 Empfehlungen der Expertenkommission, in: Wohin treibt die DDR-Erinnerung, a. a. O., S. 33.
29 Hans-Jürgen Misselwitz: Aufbau Ost, zweite Hälfte – Eine neue Agenda für die politische Bildung , in: APuZ B 45/2002 (Internetversion).
30 Siehe u. a. Mitteldeutsche Zeitung v. 6. Juni 2006; Sächsische Zeitung v. 7. Juni 2006; Süddeutsche Zeitung v. 8. Juni 2006.
in: UTOPIE kreativ, H. 204 (Oktober 2007), S. 924-935
Ein paar klärende Sätze
Ich muss nicht Verständnis aufbringen für die Sorgen und Ängste von Menschen, die offenbar zu kalt und gefühlsverarmt sind, um zu erkennen, welche Ängste ihre instinktlosen Demonstrationen bei Flüchtlingen und Einwanderern auslösen.
Ich muss nicht verstehen, warum Jahre nach dem Mauerfall Menschen gegen Ausländer auf die Straße gehen, nur weil sie nach über zwei Jahrzehnten nicht kapiert haben, womit Deutschland sein Geld und seinen Wohlstand verdient: mit Internationalität.
Ich muss nicht ertragen, dass eine Demonstrantin in Dresden in die Kamera spricht: “Wir sind nicht ’89 auf die Straße gegangen, damit die jetzt alle kommen” während sie so aussah, als sei sie ’89 nur auf die Straße gegangen, um bei ihrem Führungsoffizier die zu verpfeifen, die wirklich gingen. Diese Demonstrationen “Montagsdemonstrationen” zu nennen, ist eine weitere Instinktlosigkeit gegenüber denjenigen, die ’89 für Freiheit und offene Grenzen auf die Straße gingen.
Ich muss nicht akzeptieren, dass Menschen, die seit Jahrzehnten direkt und indirekt Transferleistungen in bisher ungekannten Höhen entgegengenommen haben, nun nicht einmal Flüchtlingskindern ein Dach über dem Kopf gönnen.
Ich muss nicht wie CSU und manche in der CDU die Fehler vor allem dieser beiden Parteien aus den 60er bis 90er Jahren wiederholen und diesen eiskalten Demonstranten auch noch verbale Zückerchen zuwerfen – von AfD und der anderen braunen Brut ganz zu schweigen.
Ich muss nicht christlich sein zu Menschen, die angeblich die christliche Tradition verteidigen, um dann ausgerechnet zur Weihnachtszeit Hass und Ausgrenzung zu predigen.
Ich muss nicht nach Ursachen suchen, um den niedersten Instinkt, zu dem die menschliche Rasse fähig ist, zu erkennen: Das Treten nach unten und das Abwälzen persönlicher Probleme und Unfähigkeiten auf willkürlich ausgewählte Sündenböcke.
Ich muss nicht ertragen, dass Menschen, die seit Jahren den Hintern nicht bewegt bekommen, ausgerechnet dann aktiv werden, wenn es gegen Minderheiten geht.
Ich muss nicht daran erinnern, dass die deutschen sozialen Sicherungssysteme jedes Jahr Milliarden EUR netto durch Einwanderer und deren Nachfahren eingenommen haben – und dass diese Gelder am Ende dem hetzenden Pöbel auch noch die Rente zahlen werden.
Ich muss nicht diplomatisch sein, sondern so, wie noch viel mehr Menschen in Deutschland sein sollten, offensiv:
Braune Brut von Deutschland: Ihr seid die Schande Deutschlands.
Unbarmherzig, hasserfüllt, menschenfeindlich und aus ganzem Herzen verachtenswert.