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Die Geschichte des Herrn W.

Mehrteilige Fortsetzungsgeschichte veröffentlicht in der Wochenzeitung "Freitag"
Autor: Wolfgang Ratzel

Teil1 - Freiheit im Kälteraum
Teil2 - "Jetzt können Sie noch auswählen"
Teil3 - Keine Adresse, keine Durchwahl, kein Fax
Teil4 - Shreddern mit C.U.B.A.
Teil5 - Täglich ein Euro zwanzig
Teil6 - Diese Stille vor Raum 598
Teil7 - Der freiwillige Herr W.
Teil8 - Der Aufstieg beginnt



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Freiheit im Kälteraum

ALS ALLES ANDERS WURDE
Der 28. Februar 2003 war für W. der Tag, an dem Vater Staat die Mutter Arbeitsamt erschlug

Als der arbeitsame Langzeitlohnarbeitslose W. am 28. Februar 2003 erwachte, erkannte er seine kleine Berliner Erwerbslosenwelt noch als die Wärmestube, die sie ihm immer war. Stunden später war alles anders. Was war geschehen?

Um das Neue zu verstehen, muss man wissen, dass hierzulande entlassene Arbeitskräfte weder auf Töpfe schlagen noch Autobahnen blockieren. Sie bevorzugen vielmehr die Traurigkeit ihres geräuschlosen Verschwindens. Einmal weg, tauchen sie nirgends wieder auf - nicht in Sportvereinen, nicht in Kulturprojekten und schon gar nicht in Erwerbsloseninitiativen. Niemand ist so ungreifbar-allgegenwärtig wie sie. Nur der Warteraum des Arbeitsamts macht sie als Gruppe sichtbar - als Gruppe zufällig zusammensitzender Vereinzelter: Jeder starrt für sich allein.

Nur wenige werden politisch akiv - berlinweit vielleicht unter hundert, aber Genaues weiß niemand. Diese wenigen gehen verschiedene Wege. Einige treibt es zurück in Lohnarbeitsverhältnisse, andere wollen nur noch sinnvoll, selbstbestimmt und von Ausbeutung befreit arbeiten, und dann gibt es noch die, die einfach in Ruhe gelassen sein wollen. So war die Erwerbslosen-Welt geordnet und auch die Dienstältesten unter ihnen konnten sich nicht erinnern, dass es einmal anders war.

Nicht dass W. in seiner kleinen Welt glücklich gewesen war, aber er hatte sich in ihr eingerichtet, und Wohlbefinden überkam ihn, wenn er arbeiten konnte, wie und was er wirklich wollte. Seit Jahren schon wirkte er wirkungslos mit einer kleinen Erwerbslosengruppe. Man traf sich, dachte nach, stritt und ging auseinander. Dort hatte W. seinen Platz und fühlte sich anerkannt, und für den Fall, dass er fehlen würde, glaubte er, eine Lücke zu hinterlassen.

W. wusste zu jeder Sekunde, wem er jene arbeitsame Idylle verdankte - dem Arbeitsamt. Jenes schien ihm - je länger, desto mehr - seine »Große Mutter« zu sein, die ihn nährte und sich um ihn kümmerte. Keineswegs zufällig endeten die meisten Demonstrationen vor den Arbeitsämtern - instinktiv liefen die Erwerbslosen zu ihrer Nährerin und klagten dort heftig über das rücksichtslose Walten von Vater Staat. Aber niemand klagte das Arbeitsamt an. Warum auch? Der Mutter Arbeitsamt waren all ihre Kinder gleich. Und mehr noch: Die am längsten an ihrer Brust lagen, waren ihr die liebsten, weil sie ihre schwächsten waren.

Diese amtliche Beziehung der Sorge verlief keineswegs konfliktfrei. Zum Beispiel fürchtete sich W. vor jedem Meldetermin. Obschon die »Große Mutter« nur zweimal pro Jahr ihre vielen Kinder einzeln zu sich rief, lag doch über allen Jahreszeiten der Schatten dieses Rufs. Denn der Meldetermin offenbarte die Wahrheit über W.´s totale Abhängigkeit und die Tatsache, dass seine Fähigkeiten auf keine zahlungswillige Nachfrage trafen. Und noch schlimmer war die Erkenntnis, nicht subsistenzfähig zu sein. W. konnte kein Handwerk ausüben, und seine Kenntnisse in Land- und Gartenbau waren kümmerlich - kein Produktionswissen, kein Werkzeug, kein Land. Das Verschwinden der Mutter wäre eine Todesdrohung. So erfuhr W. seine abgrundtiefe Staatsbedürftigkeit.

Aber W. erfuhr beim Meldetermin auch, dass es für ihn einen Platz im Gesellschaftsgefüge gab, eben den Stuhl im Beratungszimmer der Arbeitsvermittlerin. Auch wenn W. nichts mehr hasste, als vermaßnahmt zu werden - bewies nicht schon der Wille der Arbeitsvermittlerin, ihn auf jeden Fall irgendwann in eine Maßnahme zu zwängen, dass ein Platz eingerichtet war, der nur auf ihn wartete? Und solange dieser Platz auf ihn wartete, konnte W. seine Staatsbedürftigkeit und Subsistenzunfähigkeit vergessen.

Irgendwann aber verschwand Kohls massig-mächtiger Vaterkörper aus dem politischen Raum und mit ihm der gute Mensch Blüm und mit beiden das ewige Wärme-Versprechen des rheinischen Kapitalismus. Die Rotgrünen rissen die Tür der Wärmestube auf, und W. durchfror es zum ersten Mal, als der rote Kanzler ihn zum teuren Faulenzer erklärte. Aber im Arbeitsamt blieb zunächst alles beim alten. Der herbeigeredete Riss zwischen den Erwerbslosen tat sich im Amtlichen nicht auf. Das Job-AQTIV-Gesetz bewirkte ungewollt sogar das Gegenteil: Noch einmal sollten unterschiedslos alle für ihre Eingliederung »fit« gemacht werden. Ein letztes Mal wandte sich Mutter Arbeitsamt allen ihren Schützlingen in gleicher vermaßnahmender Weise zu.

Der Tag, nach dem alles anders war, war nicht der Tag der Schröder-Rede. Schon vorher war es geschehen. Am 28.Februar 2003 las W. von der zentralen Weisung des Arbeitsamts. Der rote Florian Gerster verfügte, dass es ab sofort zwei Klassen von Lohnarbeitslosen gebe: Diejenigen mit hoher Eingliederungswahrscheinlichkeit und diejenigen mit geringer oder gar keiner. Wer Arbeitslosengeld bekommt, gilt als eingliederungsfähig; wer Arbeitslosenhilfe bezieht, gilt als kaum oder gar nicht eingliederungsfähig. So einfach ist das. Am Ende des Tages markierte eine neue, bedrohliche Grenze den Raum der Armut: Die Grenze zwischen den amtlich-anerkannten Verwertbaren und den amtlich-festgestellten Überflüssigen. Der 28. Februar 2003 war für W. der Tag, an dem Vater Staat die Mutter Arbeitsamt erschlug.

Wer aber schützt nun die zu Überflüssigen Erklärten im Kälteraum der sterbenden Stadt Berlin? Aufgeregt rennen sie durcheinander und stoßen sich gegenseitig um. Wehe den Nichterwerbstätigen! Wehe den Alten! Wo sind sie geblieben - die Strukturen gegenseitiger Hilfe zwischen Verwandten, Freundinnen und Freunden, Nachbarn und Bekannten? Wo die politischen Selbsthilfegruppen? Wo irgendeine Vereinigung der Überflüssigen? Kein Netz mit Boden - nirgendwo. Befreit von arbeitsamtlicher Fürsorge werden nun alle selbst ihre Überlebens-Netze knüpfen müssen. Bei Strafe des Untergangs wird der staatsbedürftige und subsistenzunfähige W. lernen müssen, aus eigener Kraft zu leben. Die Mutter ist weg und der Vater erbarmungslos.

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"Jetzt können Sie noch auswählen"

SCHON VOR DEM 1. JANUAR WIRD ZUM EIN-EURO-JOB GERUFEN
Wie Geschäftsführer Teufel und Frau Satan in das Dasein des Herrn W. einbrachen

Am 1. Mai 2004, dem Feiertag der Arbeit, beging Herr W. ein anderes Jubiläum, sein Jubiläum - es jährte sich zum zehnten Mal der Tag, an dem er erwerbslos ward. Man darf sich nämlich Herrn W. nicht als unglücklichen Menschen vorstellen. Tag für Tag tut er, was ihm sinnvoll erscheint, und pflegt seinen Körper, seinen Geist und seinen Garten. Deshalb kann sich Herr W. noch herzeigen in seinem heruntergekommenen Haus, in seinem ärmlichen Kiez.

Herr W. lebt unauffällig und still. Er liest keine Zeitung, geht nicht fort und sieht nicht fern - aber er hört Radio, vor allem klassische Musik und Kultur. Nur ab und zu erfährt er Nachrichten, wenn er nicht schnell genug den Sender verstellt. Was draußen vorgeht, interessiert ihn nicht. Umso gewissenhafter erfüllt er seine Pflichten, die er als Erwerbsloser hat. Er hängt an seinen ArbeitsvermittlerInnen und ist immer traurig, wenn sie wechseln.

Doch immer, wenn sein Pflichttermin nahte, überkam Herrn W. eine große Unruhe, obwohl er eigentlich gar keinen Pflichttermin hatte. Es gab nur einen Meldezeitraum von fünf bis sechs Monaten, innerhalb dessen er bei seiner Arbeitsvermittlerin vorstellig werden musste. Herr W. erfand sozusagen seinen Pflichttermin und legte ihn immer auf den vorletzten Tag des Meldezeitraums. So hatte er noch einen Reservetag für den Fall, dass etwas Unerwartetes in sein Dasein hereinbrechen sollte. Wer den Meldezeitraum verstreichen ließ, wurde nämlich bestraft. Lange saß er in der Wartezone, aber irgendwann rief seine Arbeitsvermittlerin ihn beim Namen, und dann erzählte er ihr von dem, was sie "Eigenbemühungen" nannte. Immer lobte sie ihn und ließ ihn gewähren.

Herr W.s ureigenster Jahres-Höhepunkt war nicht Weihnachten, sondern der Tag der Einreichung seines Urlaubsantrags. Jahr für Jahr beantragte er 14 Tage Urlaub und bekam sie immer problemlos. Er hätte auch drei Wochen beantragen können; aber die dritte Woche ließ er verfallen, er schenkte sie dem Amt.

Im Frühsommer hörte er in den unvermeidbaren Nachrichtenfetzen zum ersten Mal den Begriff "Hartz IV". Er klang dumpf und bedrohlich. Es klang nach radikaler Änderung und radikaler Kürzung. Herr W. war Kürzungen gewohnt: Seit zehn Jahren sank seine Arbeitslosenhilfe ab, Jahr für Jahr um acht Euro pro Woche, immerhin 1,15 Euro pro Tag, und dazu fraß noch die Inflationsrate am Wert der Zahlung. Doch kam er irgendwie zurecht, und sein Urlaub blieb unbedroht. Die gesetzlichen Änderungen gingen unmerklich an ihm vorbei oder sie erreichten ihn nicht. Er zuckte, als er hörte: "schmerzhafter Einschnitt".

Am 26. Juli lag ein dicker Umschlag in seinem Briefkasten - so schwer war er wie in zehn Jahren kein anderer. Das Gewicht kam von 16 Seiten Papier - der Antrag auf Arbeitslosengeld II. Er las alles sorgfältig durch und legte den Packen schweigend weg. Im Gedächtnis hängen blieb das Wort "Erwerbsfähiger Hilfebedürftiger". Das Amt teilte ihm mit, er wäre jetzt nicht mehr der erwerbslose Hauptsachbearbeiter a.D., der früher im Betrieb genauso geachtet und beliebt war wie auf dem Arbeitsamt. Das Amt sagte, Herr W. wäre ab sofort ein anderer, ein Hilfebedürftiger.

"Darf ich auch nächstes Jahr Urlaub beantragen?"

Vierzehn Tage danach verspürte Herr W. ein verstörendes Bedürfnis. Er suchte in seinem alten Radio etwas, was er nie zuvor suchte: eine Informationssendung. Man konnte anrufen und sich beteiligen. Doch niemand fragte: "Darf ich auch nächstes Jahr Urlaub beantragen?" Herr W. griff zum Telefon. Die Dame am anderen Ende der Leitung nahm seine Frage zur Kenntnis. Aufgeregt wartete Herr W. - aber seine Frage fand im Äther kein Gehör. Drei Tage später sprach die Dame auf seinen Anrufbeantworter: "Wir bedanken uns für ihr Interesse", und buchstabierte noch eine Internetadresse. Das war ihm keine Antwort und keine Hilfe.

Herr W. ängstigte sich, als er im August seinen Urlaub beantragen wollte. Zum ersten Mal zitterte seine Stimme, denn er befürchtete als Antwort: "Urlaub? Machen Sie Witze? Was erlauben Sie sich?!" Aber die Kollegin war so freundlich wie immer, nur zurückmelden sollte er sich nicht mehr. Das verstand er nicht - wie sollte sonst das Amt kontrollieren können, ob er pünktlich zurückkäme? Im Übrigen meldete er sich gern zurück, weil die Anmeldung immer fragte, ob es schön war, und dass sie auch bald in Urlaub fahren werde und sich darauf freue. Im Betrieb hatte er sich schließlich auch stets zurückgemeldet - bei seinem Abteilungsleiter, der auch immer fragte, ob es schön war. Ja, es war immer schön und warm und sonnig.

Wegen ihrer aufgeräumten Freundlichkeit wagte er zu fragen, ob sich etwas ändern werde am Urlaub - wegen Hartz IV? Die Kollegin lachte laut los: Niemand wisse irgendetwas, und jeden Tag höre sie etwas Neues. Er müsse sich gedulden wie sie und andere auch.

Zurück aus dem Urlaub, lag eine Mahnung im Briefkasten: Er solle endlich - nach sieben Wochen - seinen Antrag zurückgeben, sonst könne das Amt die Auszahlung seines Arbeitslosengeldes II nicht gewährleisten. Herr W. legte die Mahnung zum Antrag und lebte sein Leben wie immer. Wochen vergingen und nichts geschah. Dann kam sein selbstgesetzter Pflichttermin. Solange er zurückdenken konnte, saß am Anmeldeschalter eine Frau und forderte ihn auf, Platz zu nehmen und auf den Aufruf seiner Arbeitsvermitttlerin zu warten. Jetzt saß dort ein Mann und sprach: "Für Sie ist kein Beratungstermin eingetragen." Er gab ihm ein Formular, worauf geschrieben stand, dass er nur vorsprechen solle, wenn sein Anliegen nicht auf telefonischem Wege erledigt werden könne. Herr W. hatte kein Anliegen. Sie ließen ihn nicht durch; sie wollten ihn nicht mehr sehen. Herr W. bat die Anmeldung, wenigstens zu vermerken, dass er da war, damit nichts passiere. Der Mann schaute erstaunt-belustigt - es passiere bestimmt nichts -, tat es aber ihm zuliebe.

"Übermorgen ist Gruppeninformation - kommen Sie bitte."

Herr W. war gewohnt, monatelang nichts vom Amt zu hören, und wenn, dann kam ein Brief. Deshalb erschrak er, als die Stimme des Amts aus dem Telefonhörer drang - er solle seinen Antrag abgeben: "Kommen Sie einfach vorbei.". Tags drauf lag auch noch die Vorladung zur Gruppeninformation im Briefkasten. Thema: Antrag AlG II. Tags drauf klingelte das Telefon erneut: "Übermorgen ist Gruppeninformation - kommen Sie bitte." - "Ja, ich weiß, ich komme." Wenig später wieder ein Brief, mit vertrautem A-Stempel, aber im Adressfeld stand "bbw-Akademie". Herr W. dachte bei sich: Akademie verheißt höhere Bildung. Aufgeregt riss er den Brief auf. Es schrieb ihm ein Klaus-Dieter Finke, im Namen des Geschäftsführers Teufel, als Ansprechpartnerin wurde Frau Satan genannt (s. Abbildung). Sie boten ihm keine Bildung an, dafür aber eine Stelle im "gemeinnützigen Bereich": 1,50 Euro pro Stunde, 30 Wochenstunden, neun Monate lang. Ihm fiel ein, dass manche Leute Scherze treiben, indem sie gefälschte Amtsschreiben versenden. Er musste aber nicht lachen, und es war auch kein Scherz.

Tags drauf stand er vor einer Bürotür, an der geschrieben stand: "Maßnahmen für Jugendliche mit abgeschlossener Ausbildung". Als 56-Jähriger zählte er sich nicht mehr zu den Jugendlichen, und zwei abgeschlossene Ausbildungen hatte er auch schon. Herr W. trat ein und sprach: "Ich fühle mich durch Ihr Stellenangebot gedemütigt." Stille. Darauf Frau Satan: "Sie müssen nicht. Alles ist freiwillig. Jetzt können Sie noch auswählen - später nicht mehr. Ab 1. Januar müssen Sie nehmen, was Sie kriegen." Die Atmosphäre war so ganz anders als im Amt. Herr W. fragte, zwischen welchen Stellen er sich entscheiden solle. Zur Wahl stand Altenpflege, Jugendliche betreuen, technische Anlagen in Schuss bringen, Fußballfelder wässern. Herr W. sagte Nein und ging. Im Hinausgehen hörte er noch, dass er in den Stellenpool der Akademie aufgenommen werde; wenn er selbst etwas finde, möge er anrufen.

Später, bei der Gruppeninformation, wurden Adressen von anderen Akademien und Vereinen verteilt. Sie alle boten Arbeiten für 1,50 Euro in der Stunde an. Das sei keine Lohnzahlung, sondern eine Mehraufwandsentschädigung, meinte die Leiterin der Gruppeninformation. Einer fragte, wer die Fahrtkosten erstatten würde. Die Leiterin errötete etwas. Die Antwort - "Niemand" - war ihr peinlich. Die Fahrtkosten waren nämlich genau der Mehraufwand, um den es ging, und ebenso die zusätzlichen Essenskosten.

Herr W. rechnete. Wenn er fünf Stunden arbeitete, bekäme er 7,50 Euro und hätte Kosten von zwei mal zwei Euro für die Fahrkarten hin und zurück. Wenn er nicht Essen ginge und dafür seine Stulle und seine Thermosflasche mitnähme, lägen abends 3,50 Euro im Geldbeutel - für fünf Stunden Arbeit plus An- und Abfahrtszeit.

Danach schritt Herr W. zur Sonderzone für die Abgabe des Antrags auf ALG II. Dort musste er alles vorzeigen, und alles, was er zeigte, wurde kopiert - sein geliebtes Sparbuch, seine Kontoauszüge, sein Mietvertrag. Seine Wohnung war 3,5 Quadratmeter zu groß, aber nicht zu teuer. Die Kollegin beteuerte, dass er nicht umziehen müsse, dass er nichts zu befürchten habe, dass alles in Ordnung sei. Der Antrag war nun abgegeben, und die Verwandlung des Herrn W. in einen Hilfebedürftigen konnte vollzogen werden. Alles ging schnell über die Bühne, und alle beteiligten SachbearbeiterInnen behandelten ihn freundlich und zuvorkommend. Und dennoch war nichts so wie vorher.


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Keine Adresse, keine Durchwahl, kein Fax

HARTZ IV KAFKAESK
Herr W. erfährt, was er noch wert ist, im Leben und danach

Wie ein Geschäftsführer namens Klaus-Dieter Teufel und die Sachbearbeiterin Satan in das Leben des langzeitarbeitslosen Herrn W. einbrachen, hat Wolfgang Ratzel vor sechs Wochen beschrieben (s. Freitag 43 vom 15.10.) Mittlerweile ist einiges passiert, zunächst ganz ruhig, aber dann doch überraschend und schockierend.

Kaum hat Herr W. seinen Antrag auf Arbeitslosengeld II abgegeben, kehrt die gewohnte Ruhe in sein Leben ein. Nichts geschieht - wochenlang. Kein amtlicher Brief erreicht ihn, keine freundliche Stimme erinnert ihn an die nächste Gruppeninformation. Manchmal denkt er verzagt: Ist es die Ruhe vor dem Sturm? Aber kein Sturm erhebt sich. Und dennoch: Alles ist anders. Herr W. teilt seine Lebenszeit neu ein. Plötzlich gibt es wieder ein Vorher und ein Nachher - genau wie vor zehn Jahren. Damals stellte er seinen Antrag auf Arbeitslosengeld; 23 Jahre Lohnarbeitszeit gingen zu Ende. Damals überkam ihn Aufbruchsstimmung zu neuen Ufern. Und heute? Etwas Unbestimmbares hat ihn besetzt - Angst. Aber wovor?

Düster klingt vor allem das Wort "Arbeitsgelegenheit". Es ist für immer verknüpft mit der warnenden Stimme von Frau Satan, die ihm im September im Namen einer gewissen "bbw Akademie" einen 1,5-Euro-Job angeboten hatte: "Jetzt können Sie noch wählen - aber nach dem 1.Januar müssen Sie nehmen, was wir Ihnen bieten." Er will unbedingt seine Arbeitsvermittlerin sprechen. Herr W. greift zum Hörer, hört aber immer wieder nur das Besetztzeichen. Die Zentrale ist ratlos. Dann plötzlich das Freizeichen, aber sie meldet sich nicht. Herr W. gibt nicht auf, und irgendwann ertönt die Stimme seiner Arbeitsvermittlerin - matt, erschöpft, abwesend: "Um was geht es Ihnen?" - "Ich muss Sie sprechen, seit 14 Tagen versuche ich, Sie zu erreichen; es ist dringend." - "14 Tage? Sie müssen entschuldigen; Hartz IV, Schulungen, Gruppeninformationen; ich war selten da. Geht es telefonisch?" - "Nein, ich bitte um einen Termin." - "Kommen Sie am Dienstag, 10 Uhr - kommen Sie direkt zu mir."

Als Herr W. das gewohnte Büro betritt, erkennt er sie kaum: Verschattete Augen, zusammengesunken, fertig. Er fasst sich kurz: "Ich muss hinzuverdienen und weiß, was ich arbeiten will. Sagen Sie mir bitte, welcher Träger in Frage kommt - als ABM-Stelle, wenn´s geht." Herr W. schiebt einen Zettel über den Tisch, auf dem eine Stellenbeschreibung geschrieben steht, von ihm verfasst, seine Stelle in dieser Gesellschaft. Sie überfliegt die Zeilen - unbewegt. Er hält den Atem an. "Sehr schön. Aber ich muss Ihnen sagen: ABM-Stellen werden hinsichtlich Höhe des Gehalts und Anzahl stark zurückgefahren und ... (sie zögert, es ist ihr peinlich) ... auf Bezieher von Arbeitslosengeld I beschränkt, in der Regel, versteht sich. Und Sie haben auch niemals Anspruch auf eine bestimmte ABM-Stelle."

Herr W. glaubt, eine schwere Eisentür zukrachen zu hören. Jetzt begreift er, dass er ein Erwerbsloser zweiter Klasse ist. Er wird nicht mehr eines Arbeitsvertrages für würdig befunden. Leise fragt er: "Was soll ich tun?" - "Für Sie gibt es nur die Option Arbeitsgelegenheiten! Vielleicht kann ich Ihnen helfen, wenn Sie einen Träger für Ihre Stelle finden. Oder kommen Sie nächstes Jahr, dann suchen wir zusammen einen Träger." Zum Abschied fasst sich Herr W. nochmals ein Herz: "Werde ich Anspruch auf Urlaub haben?" - "Ich weiß es nicht."

Eines Morgens gerät Herr W. unversehens in eine Fragestunde zum Arbeitslosengeld II. Auf seinem Radiosender antworten vier Spezialisten der "Regionalagentur für Arbeit". Herr W. horcht auf. Das sind nicht irgendwelche selbsternannten Ratgeber, das sind Leute, die sich auskennen. Welch eine Vielfalt der Probleme: Übereignete Häuser, Kleingärten, Freizeitgrundstücke, angemessene Autos, volljährige Söhne, Haustiere und Krankengeld. Herr W. erfährt zum Beispiel, dass Tiere nicht von der Arbeitsagentur unterstützt werden. Und er hört, dass seine Erbinnen das Arbeitslosengeld II der letzten zehn Jahre aus seinem Erbe zurückzahlen müssen. Herr W. erstarrt auf seinem Küchenstuhl. Man kann ihm vielleicht einreden, dass es rechtens und gerecht sei, ihn zu Lebzeiten zum armen Mann zu machen - aber ihm nach seinem Tod alles wegzunehmen, was trotz alledem übrig bleibt - das erscheint Herrn W. wie Leichenfledderei und Totenschändung.

Um ihn zu verstehen, muss man wissen, dass es für Herrn W. eine Frage der Ehre ist, der Gesellschaft nicht zur Last zu fallen. Herr W. rechnet so: Wenn er seine Notreserve von 5.500 Euro ungefähr halten kann, bleiben abzüglich der Beerdigungskosten vielleicht 3.500 Euro übrig. Er ginge also mit schwarzen Zahlen in die "Ewigen Jagdgründe" ein. Diese Gewissheit ist ihm äußerst wichtig. Und er schmunzelt bisweilen bei der Vorstellung, wie seine Erben - im Angedenken an ihn - wenigstens einmal in Saus und Braus schlemmen und prassen. So ist es von ihm verfügt, so soll es sein. Und nun reicht sein Erbe gerade einmal für die Erstattung von fünf Monaten Arbeitslosengeld II. Herr W. würde in der Sekunde seines Todes zum ewigen Schuldner werden. Zum ersten Mal hasst Herr W. diejenigen, die solches verfügen.

Dann fragt eine Frau im Radio, ob es künftig erlaubt sei, in Urlaub zu fahren. Das Blut schießt ihm in den Kopf - seine ureigenste Frage. Die Spezialistin zögert: Urlaub, ja, aber Dauer unklar. Und: "Bei einer Reise gilt laut Sozialgesetzbuch II, dass der Urlaub in Deutschland zu nehmen ist. Wer ins Ausland fährt, erhält keine Leistungen." Die Frau hakt nach, das Wort "Reisefreiheit" fällt. Dann die Beschwichtigung: "Vielleicht werden künftig Reisen in die EU erlaubt, derzeit aber nicht." Herr W. fühlt sich gründlich enteignet.

Der Bekanntenkreis von Herrn W. war nie groß, und über die Jahre verloren sich die Wenigen. Für seine Geburtstagsfeier reichen inzwischen vier Stühle. Was machen eigentlich die Anderen? Plötzlich interessiert ihn das wieder. Er fragt nach. Einer von denen, die er lange nicht gesehen hat, sagt: "Ich mache eine Suppenküche auf, als Ich-AG", und er kenne noch jemanden, der eine Boutique für Kinderkleidung eröffne, und schließlich jemanden, der würde sich sogar scheiden lassen, um Geld zu erhalten. Sein Freund aus alten Tagen spricht voller Elan, doch der Funke springt nicht über. Herr W. bleibt skeptisch: Wer denn seine Suppen kaufen würde, und ob er schon ausgerechnet habe, wie viele Suppen er verkaufen müsse, um werktäglich 40 Euro zu verdienen - und er meine mit Verdienen nicht den Umsatz, sondern den Reinverdienst abzüglich aller Kosten. Schweigen. Zum ersten Mal bedenkt Herr W., was er eigentlich zu verkaufen habe.

Seinen Antrag auf Arbeitslosengeld II bekommt er am 26. Juli. Zehn Wochen braucht er, um ihn schließlich am 6. Oktober abzugeben. Am 18. November reißt er einen Brief des JobCenters auf. Aber es ist kein Jobangebot, es ist der Bescheid: 345 Euro für seinen Lebensunterhalt zuzüglich 315,11 Euro für Unterkunft und Heizung. Damit sinkt sein monatliches Einkommen um 141,22 Euro. Herr W. schaut sich den Bescheid nun genauer an. Je mehr er liest, desto deutlicher spürt er die Wiederkehr der alten Unruhe. Warum schreibt ihm ein JobCenter und nicht mehr die Agentur für Arbeit? Weshalb hat dieses JobCenter keine Adresse, sondern nur ein Postfach? Wie soll er in einem Postfach jemals wieder seine Arbeitsvermittlerin sprechen? Beruhigend ist zumindest, dass das Postfach die gewohnten Öffnungszeiten anbietet: Montags, dienstags und freitags von 8 bis 13, donnerstags sogar von 8 bis 18 Uhr. Den Bescheid schickt ihm ein Herr D., dessen Durchwahl, Telefax und E-Mail bleiben allerdings ungenannt.

Schließlich liest Herr W., dass er ab dem 1. Januar kein individuelles Wesen mehr sein würde. Das Amt spricht ihn an als "Vertreter einer Bedarfsgemeinschaft" an und verwandelt seine alte Kunden-Nummer in eine "Nummer der Bedarfsgemeinschaft". Er ist also auch kein Kunde. Von seiner alten Nummer überlebten nur die ersten drei Ziffern. Sie werden ihn stets daran erinnern, dass er früher einmal Person und Kunde war. Wohngeld bekommt er nun auch nicht mehr, nur "angemessene Kosten der Unterkunft und Heizung" werden übernommen. Im Wörterbuch steht, dass Unterkunft etwas anderes meint als Wohnung, nämlich einen "Raum oder Ähnliches, wo jemand als Gast oder Ähnliches vorübergehend wohnt." Unterkunft sei demnach in seiner Bedeutung verwandt mit "Obdach", "Bleibe" und - Herr W. bekommt Schweißausbrüche - mit "Behelfsunterkunft" und "Notunterkunft". Wenn irgendetwas sein Ein und Alles ist, dann seine bescheidene kleine Wohnung. Warum Unterkunft? Was hat das Amt mit ihm vor?


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Shreddern mit C.U.B.A.

HARTZ IV ALS PARABEL
Herr W. trifft einen alten Bekannten, findet das kleinste Arbeitsamt der Welt und bekommt Post aus dem Paradies

Der Herbst beginnt für Herrn W. mit einer Einladung von Herrn Teufel und Frau Satan. Den angebotenen 1,5-Euro-Job lehnt er dankend ab und erfährt später, was er noch wert ist - im Leben und danach (siehe Freitag Nr. 43 vom 15.10. und Nr. 49 vom 26.11.). Nun kommt plötzlich Herr M. und dann eine unerwartete Gasrechnung ins Haus. Was soll er tun? Vor allem: Wie findet er seinen ALG II-Sachbearbeiter, der weder Adresse noch Durchwahl hat?

JobCenter - niemals würde Herr W. dieses Wort in den Mund nehmen. "Job" erinnert ihn an Tagelöhnerei, und "Center" an öde Einkaufszentren. Amt hat einen ganz anderen Klang. Wer, wenn nicht ein Amt, sollte sich ernsthaft um Arbeit und Beruf kümmern? Sein Amt allerdings hat scheinbar gar nichts mit ihm vor. Tage kommen und gehen ins Land. Nichts geschieht. Und dann ist auch noch der Volkshochschulkurs ausgebucht. Lernen, wie man sich selbst helfen kann - Herr W. staunt über den Zulauf und trägt sich in die Warteliste ein.

Eines Abends klingelt und klopft es zugleich - ein schlechtes Vorzeichen. Vor seiner Tür steht einer, den er lange nicht gesehen hat. "Hallo. Wir kennen uns, weißt du noch, damals."

Herr W. erinnert sich. Damals - das waren die Jahrzehnte seiner Lohnarbeit. Und der da vor ihm steht, war ein Kollege, Herr M. aus der Personalabteilung. Das war der, der immer Bouletten aus der Kantine holte - zum Frühstück. Manchmal trafen sie sich auf dem Gang, er grüßte, und jedes Mal drehte sich sein Magen um. Bouletten zum Frühstück! Das war alles, was er von M. wusste.

"Es ist mir peinlich", sagt M., "aber ich wohne seit fünf Jahren um die Ecke, und Du stehst im Telefonbuch."

Herr W. wird nervös. Was kommt da auf ihn zu? "Um was geht es denn?"

"Ich mach´s kurz", sagt M, "eben will ich Geld abheben, da schluckt der Automat meine Karte und gibt sie nicht mehr her. Und heute ist Freitag. Ich weiß nicht, was ich machen soll."

"Du hast doch erwachsene Kinder, oder nicht?"

"Ja, aber der Jüngere ist nach Westdeutschland abgehauen, und die Ältere bekommt nur Arbeitslosenhilfe - eine kleine, genau so wie ich."

"Ich auch", erwidert Herr W.

"Wieso du auch?"

Vermutlich erinnert sich jetzt M. an damals. Denn in jener fernen Zeit war M. nur ein Zuarbeiter, und Herr W. Hauptsachbearbeiter, ein Spezialist, vier Gehaltsgruppen über ihm, ausgestattet mit Unterschriftsvollmacht.

"Du, ich klär´ das mit der Karte am Montag", sagt M., "wahrscheinlich war sie nur verschmutzt."

Geht er jetzt? Hat er verstanden? Nein, Bouletten-M. setzt nach: "Kannst Du mir bis dahin 20 Euro leihen?"

Noch nie in seinem langen Leben hatte Herr W. einem Bekannten oder Kollegen Geld geliehen. Das war immer ein Tabu. Darüber redet man nicht. Wer Geld braucht und keines hat, überzieht sein Konto oder nimmt einen Kredit auf. Wer arm ist, geht lieber zum Pfandleiher als zum Nachbarn.

Nun kommt M. und spricht es einfach aus. Herr W. ist hilflos. Ich darf jetzt nicht weich werden, sagt er sich. Sonst wird es schrecklich enden. Und doch geht er zu seiner Notreserve und tut das, was er noch nie getan hat.

"Vielen, vielen Dank! Wenn ich dich nicht hätte. Bis bald." Schnell ist M. wieder verschwunden. Wird er seine Schuld begleichen?

Da sitzt er nun, der Herr W. in seiner Küche, und begreift allmählich, was Angst bedeutet. Was wird noch alles kommen?

Tage später holt er eine Gasrechnung aus dem Briefkasten. Herr W. heizte sparsam und hatte nie Nachzahlungen zu befürchten. So riss er übermütig den Umschlag auf - und traute seinen Augen nicht: "Zu zahlender Betrag: 103,90 Euro". Und Erhöhung der monatlichen Vorauszahlungen um 11,92 Euro.

Gerade eben hatte das Amt seine alten Heizkosten voll übernommen; es konnte nicht wissen, dass er ab sofort jeden Monat 11,92 Euro mehr bezahlen soll. Natürlich muss das Amt diese Änderung sofort erfahren. Er muss zu diesem Herrn D., der auf seinem ALG II-Bescheid stand. Aber Herr D. ist nicht erreichbar, keine Durchwahl, kein Fax, keine e-Mail - nichts. Sein Dienstgebäude ist das Postfach Nr. 580255 in 10412 Berlin. Immerhin ist das Postfach - so steht es jedenfalls auf dem ALG II-Bescheid - zu den gewohnten Zeiten geöffnet. Und die Post müsste doch wissen, an welcher Straße das Postfachdienstgebäude liegt.

Herr W. wählt die "Hotline für Privatkunden" - eine 0180-Nummer. Ist das nicht die Vorwahl, die Verbrecher nutzen, um Leute wie ihn mit horrenden Gebührensätzen zu betrügen? Doch da spricht schon eine freundliche Computerstimme: "Sechs Cent pro Anruf - bitte warten." Schließlich bedauert eine Frau, dass sie die Straßenadresse der Postfachanlage leider nicht herausfinden könne.

Aus Erfahrung weiß Herr W., dass jede der vielen freundlichen Stimmen in den CallCentern immer nur einen Teil der Wahrheit kennt. Und so versucht er es erneut. Die zweite nette Stimme hat denn auch eine gute Idee: "Rufen Sie die Postfachverwaltungszentrale an; die wissen die Adressen aller deutschen Postfachschränke."

Die Postfachverwaltungsvorwahlnummer lautet 01805. Also Vorsicht. Zwölf Cent pro Minute. Herr W. wählt acht Mal und hört ebenso oft: "Unsere Abfrageplätze sind alle belegt. Bitte versuchen Sie es später."

Immer, wenn sich Herr W. ungerecht behandelt fühlt, wird er mutig und macht Dinge, die er sonst nicht tut. Also fordert er von der Sechs-Cent-Service-Stimme für Privatkunden Rechenschaft: "Muss ich jetzt acht Mal zwölf Cent bezahlen?"

"Wenn Sie in der Warteschleife waren, ja."

Herr W., der zwar manchmal glaubt, er lebe in der Warteschleife des Lebens, weiß genau, dass er nicht in der Warteschleife der Postfachverwaltungszentrale war. So erwidert er entschlossen: "Die Postfachverwaltungs-Stimme sagte doch, ich soll nicht warten."

Darauf die zweite Stimme: "Augenblick, ich frage nach." Und dann: "Sie müssen bezahlen, weil Sie in der Warteschleife waren."

Grob, wie es gar nicht seine Art ist, unterbricht Herr W.: "Nein!"

"Doch! Den Hinweis, dass Sie nicht warten sollen, haben Sie in der Warteschleife erhalten!"

Herr W. ist nah dran überzukochen, da wird die zweite Stimme plötzlich wieder freundlicher: "Nennen Sie mir einfach Ihr Problem."

"Ich muss unbedingt zu meinem Arbeitsamt, aber das Amt hat nur ein Postfach, Nr. 580255 in 10412 Berlin."

Stille, und dann: "Die Postfach-Anlage liegt im Prenzlauer Berg, Schönhauser Allee 79."

"Nein, nein, nein, das kann nicht sein", schreit jetzt Herr W., "Ihre Kollegen sagten, man könne es nicht feststellen."

"Das kann ich nicht nachvollziehen - alle haben denselben Datenzugriff."

Herr W. glaubt zu hören, dass die freundliche Stimme einen hämischen Unterton bekommen hat. Denkt sie, er sei verrückt? Ist er es vielleicht tatsächlich? Nein, er ist es nicht, also auf zur Schönhauser Allee 79.

An einem Donnerstag gegen Abend, mitten in der offiziellen Öffnungszeit des Postfaches, findet er die gesuchte Anlage im dunkelsten Abseits eines ansonsten glitzernden ArcadenCenters. Niemand ist da, schummriges Licht, und der Eingang zum Postfachraum bleibt ihm ohne Code-Karte verschlossen. Irgendein mitleidiger Postfachinhaber lässt ihn schließlich rein: "Sie wollen zu einem Postfach und haben keinen Schlüssel zum Leeren. Das verstehe ich nicht."

Herr W. traut sich nicht zu sagen, dass er gerade sein Arbeitsamt gefunden hat. Es würde auch kaum helfen. Denn der Andere hält ihn wohl schon längst für einen Obdachlosen, auf der Suche nach einem warmen und sauberen Schlafplatz. Soll er denken, was er will. Herr W. hat sein Ziel erreicht, allein das zählt. Hier ist es, das Postfach 580255 in 10412 Berlin, 30 Zentimeter breit und 20 hoch. Das kleinste Arbeitsamt der Welt.

Wo könnte nun Herr D. stecken, der ihm zugeordnete unterste Verwalter des Sozialgesetzbuches II? Im Postfach kann er ja nicht sein. Herr W. hat auch keinen Schlüssel, um sich Gewissheit zu verschaffen. Vielleicht wird gleich eine Hand durch den Schlitz greifen und ihm seine Gasheizungskostenerhöhung abnehmen. Herr W. staunt über seine eigenen Gedanken. Das Postfach nicht, es bleibt stumm und regungslos.

Sieben Tage später liegt ein amtliches Schreiben in seinem Briefkasten. Absender: "Arbeitsamt Berlin" und "Bundesanstalt für Arbeit", deutlich geschrieben, keine Halluzination. Der Brief ist neuesten Datums.

Herr W. hält den Atem an. War alles doch nur Spuk? Kehrt das alte Amt zurück? Das Schreiben ist tatsächlich ein Wunder, ein Stellenangebot, und nicht irgendeines. Sein Herz klopft. Er liest: Teilzeit - sofort - C.U.B.A. - Paradiesstrasse. Aber warum schreibt das Amt C.U.B.A. mit Pünktchen? Herr W. ist so aufgeregt, dass er immer wieder liest: C.U.B.A und Paradiesstrasse.

Ist das der glückliche Ausgang? Musste Herr W. erst von Herrn Teufel und Frau Satan zum Gang durch die Hölle der Arbeitsgelegenheiten gerufen werden, um danach auf die Straße zum Paradies, nach CUBA, zu gelangen?

Herr W. hebt seinen Blick und nun begreift er, dass Berlin-Treptow sein Paradies werden soll. Befristet bis zum 31.07.05 darf er "Aufschrauben, Entlöten, Sägen, Trennschleifen, Meißeln, Shreddern, Sammeln, fraktionieren." Also harte Arbeit groß schreiben und fraktionieren klein. Und dann der Lohn, den er schon von Teufel und Satan kennt: 1,50. Ob sich das Amt ganz bewusst weigert, die Zumutung "Euro pro Stunde" dahinter zu setzen? Sein Blick streift das Adressenfeld: Die Post hat den falschen Briefkasten erwischt. Das Angebot ist für Frau Sch. von nebenan.


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Täglich ein Euro zwanzig

COUNTDOWN HARTZ IV
Herr W. belegt einen Selbsthilfekurs, ruft seinen persönlichen Notstand aus und erhält nun manches zum Sozialtarif

Nach einer merkwürdigen Begegnung mit Herrn Teufel und Frau Satan, einer unerwarteten Gasrechnung und einer erfolglosen Fahndung nach seinem Sachbearbeiter wird Herr W. im November zum Schreddern in die Paradiesstraße geladen (siehe Freitag Nr. 43 vom 15. 10., Nr. 49 vom 26. 11. und Nr. 53 vom 24. 12.). Kurz vor Weihnachten wird ihm nun endlich klar, was Hartz IV bedeutet, für ihn ganz persönlich.

Wieder geschieht lange Zeit nichts. Und trotzdem sickert Hartz IV in jede Ritze seines Alltags. Im Gespräch mit Bekannten immer wieder dasselbe Thema: "Hast du schön gehört? Weißt du schon das Neueste?" Und eines Tages fragt ihn die Frau mit Hund - er trifft sie seit Jahren auf seinen immergleichen Spaziergängen an der immergleichen Kreuzung, wobei sie sich immer nur kurz grüßten - "Haben Sie schon Ihren Bescheid?" Ja, er hat. Aber wieso fragt er nicht zurück: "Welchen Bescheid?" Warum ist klar, dass der Bescheid eben nur der Bescheid sein kann und kein anderer? Sieht er schon aus wie einer, der so einen Bescheid bekommt? "Ick heize mit Jas", spricht die Frau, "und mir ham ´se beim Jas drei Euro und och det janze Warmwasser abjezogen, und ick weeß nich, warum." Die-da-oben hatten Herrn W. beim Gas sogar 3,51 Euro abgezogen, aber das Warmwasser bezahlt, auch er weiß nicht warum. "Wissen ´se: Mene Freundin bearbeitet die Anträge uff´m Amt, aber sie darf mir nich sajen, warum ´se ditte so abziehen."

Einfach nur grüßen und weitergehen? Das ist jetzt vorbei. Hartz IV wird ihn für immer mit dieser Frau und ihrem Hund verbinden. Mit den Nachbarinnen dieselben Gespräche: "Wat, Sie och?" - "Ja, ich auch."

Eines Tages klingelt das Telefon: "Hier Volkshochschule, ein Platz ist frei geworden, Sie können teilnehmen, übermorgen." Herr W., Nachrücker auf der Warteliste eines ausgebuchten Kurses zum Thema "Wirtschaftliche Selbsthilfe", wird nervös. So etwas ist neu für ihn.

Zwei Tage später sitzen um ihn herum 18 Leute - 14 Frauen und nur vier Männer. Nervös ist auch der Leiter: "Normalerweise fallen solche Kurse aus. Warum heute so viele?" Eine Teilnehmerin ruft: "Noch eins und zwei und drei und vier, dann steht Hartz IV vor unsrer Tür". Alle lachen laut los, Herr W. auch. Dann folgt die Vorstellungsrunde: Name, Alter, Beruf, Status, Motiv, was tun Sie im Moment? Als achter ist Herr W. dran: "Ich bin 56 Jahre alt, Arbeitslosenhilfe-Bezieher, seit zehn Jahren erwerbslos, ehrenamtlich engagiert, aber unter 15 Stunden pro Woche." Vorbei, Gott sei dank, der nächste. Aber dann ertönt ein Zwischenruf: "Fuffzehn Stunden, det brauchs´ de hier nich zu sajen, du biss hier nich uff´m Amt." Wieder schallendes Lachen. Herr W. errötet bis in die wenigen Haarspitzen.

Ganz plötzlich ist dann der Spaß vorbei. Nummer neun nennt weder Namen noch Alter. Aber sie redet und redet, über die, die an allem schuld sind. Zuletzt schreit sie nur noch. Nummer zehn brüllt noch lauter: "Die auf dem Amt sind doch Faschisten." Herr W. holt tief Luft, um zu widersprechen - und bleibt doch stumm. Andere murren laut. Der Leiter hört unbewegt zu.

Der Mann, der als letzter dran kommt, sitzt etwas abseits: "Ich war leitender Angestellter, bin verheiratet, zwei Kinder, meine Arbeitslosenhilfe war gut, aber ab 1. Januar bekomme ich nichts mehr, meine Frau verdient zu viel." Nur eine einzige Frage hat er: "Können Sie mir eine Selbsthilfemöglichkeit nennen, die pro Monat 1.500 Euro brutto bringt? Wenn nein, gehe ich." Der Leiter sagt: "Ihr Begehren ist bescheiden und liegt auf der Höhe der Mindestlohnforderung der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten." - "Können Sie eine anbieten oder können Sie nicht?" - "Ich kann nicht." Der Manager a.D. springt auf: "Hätte mich auch gewundert. Immer dasselbe." Und weg ist er.

Herr W. denkt entsetzt: Woher kommt dieser Hass? Und wohin führt er? Mit Mühe reißt der Kursleiter die Aufmerksamkeit wieder an sich und präsentiert seine Armen-Checkliste: "Haben Sie schon das Sozialticket der Verkehrsbetriebe? Haben Sie schon Ihre Befreiung von den Rundfunk- und Fernsehgebühren? Haben Sie schon den Sozialtarif der Telekom beantragt? Haben Sie ihre Arbeitslosengeld-II-Bescheide verstanden? Wissen Sie, was Sie tun, wenn die Arbeitsgelegenheit kommt?"

Die Checkliste findet reißenden Absatz. Und dann erlebt Herr W. ein Feuerwerk der Selbsthilfemöglichkeiten: Tauschen, Teilen, Schenken, Selbstversorgung, Eigenarbeit. Beispiele über Beispiele - aus Indien, Russland, Rumänien, New York und Argentinien. Folien und Zeichnungen, Adressen, Ansprechpartner, Internet-Seiten. Herr W. ist wie benommen.

Zum Schluss verteilt der Leiter zwei Hausaufgaben. Zuerst einen Bogen Haushaltsbuch: "Errechne deine Fixausgaben und ziehe sie von 345 Euro ab. Reicht der Rest für ein menschenwürdiges Leben? Wie groß ist deine Einkommenslücke?" Und zweitens: "Was kannst du eigentlich? Was ist verkäuflich von dem, was du kannst?"

Herr W. läuft beschwingt, fast übermütig nach Hause. Wenn es für Abermillionen Auswege gibt, dann würde auch für ihn ein Ausweg dabei sein. So viele Menschen, die sich selbst helfen. Darauf muss er einen trinken - vom besten Kaiserstühler.

Dann, nach 38 Jahren zum ersten Mal, macht er seine Hausaufgaben. Er kramt seine wohlgeordneten Unterlagen durch, notiert, rechnet hin und her, und traut schließlich seinen Augen nicht. Die Fixkosten seines jetzigen Lebens betragen 308,26 Euro. Hastig überfliegt er noch mal die Einzelposten, aber immer wieder summiert sich der Endbetrag auf unfassbare 308,26 Euro:

Fixkosten:
Nicht übernommene Wohnungskosten
Strom 20,31 Euro, Warmwasser: 27,43 Euro. Rundfunkgebühren: 5,32 Euro. Telefon: etwa 30 Euro. Sozialticket Nahverkehr: 32 Euro. Zwei Zeitungsabos: 38,30 Euro. Versicherungen (Haftpflicht, Hausrat, Unfall): 12,10 Euro. Mieterverein: 3,30 Euro. Kontoführungsgebühr: 4,50 Euro. Monatliche Umlage für Mutter-/Töchter-Besuche: bei 50 Prozent Frühbucherrabatt der Bahn minimal 35 Euro. Umlage 14 Tage Urlaub: 70 Euro. Umlage Geschenke und Bücher: jeweils mindestens 15, also 30 Euro. Summa summarum: 308,26 Euro.


Von den 345 Euro Regelsatz West, die ihm - neben der Übernahme von Miet- und Heizkosten - zustehen, verbleiben nach Abzug aller Fixkosten 36,74 Euro pro Monat. Am Tag ein Euro zwanzig Cent. Für Essen, Kleidung, Körperpflege, Kulturveranstaltungen, Möbel, Hausrat, Reparaturen, Porto und für all das, was man immer wieder zu berechnen vergisst. Ein Euro zwanzig. Wie stände er da, wenn er auch noch rauchte und ein Auto hätte.

Herr W. sitzt am Küchentisch und rührt sich nicht mehr. Bis in den Grund seiner Seele erschüttert, weiß er nun: das ist keine Lücke, das ist ein Abgrund. Die Volkshochschule hat ihm die Augen geöffnet. Mit der Hilfe des Amtes kann er nicht mehr rechnen, es ist jetzt ein JobCenter. Er muss sich selbst helfen und sofort damit beginnen, noch im alten Jahr, noch vor Weihnachten.

Am 21. Dezember nimmt Herr W. seine VHS-Armen-Checkliste und begibt sich in die Abendsprechstunde seines Bezirksamts. Er rechnet mit einem Saal voller Hilfesuchender. Aber der 50 Meter lange Wartegang ist leer. Herr W. zieht seine Nummer: 429. Darunter der Vermerk: "000 Bürger warten". Eine Viertelstunde lang passiert nichts. Vielleicht hat das Warten eines einzigen Bürgers zu wenig Gewicht, um die Aufruf-Apparatur in Gang zu bringen, denke Herr W. Deshalb zieht er eine zweite Nummer: 430. Vermerk: "001 Bürger warten". Er ist beruhigt: Der Apparat hat ihn registriert. Warum geschieht dennoch nichts?

Irgendwann sitzt er in einem weitläufigen Büro. Drei Kolleginnen arbeiten dort an schlecht beleuchteten Schreibtischen. Der Rundfunkgebührenbefreiungsbescheid ist in fünf Minuten erteilt. "Gehen Sie damit zu einem T-Punkt der Telekom. Die bearbeiten den Sozialtarif für Ihr Telefon. Für die BVG-Sozialkarte haben wir zwei Extra-Zimmer im Haus 2 - damit es schnell geht." Herr W. ist im Haus 6 und durchquert nun die Weiten des Bezirksamts.

Im Haus 2 sind die langen Gänge leer. Eines der beiden Sozialticket-Büros ist verschlossen. Im anderen unterhalten sich zwei Mitarbeiterinnen. Eine betrachtet Herrn W.´s Bescheid und füllt einen kartonierten Datenträger aus: "Das nehmen Sie mit und gehen dann mit Passbild zum Fahrkartenschalter der BVG." Hilfesuchend betritt ein Mann den Raum: "Ich habe noch keinen Bescheid, aber das Arbeitsamt sagt, dass ich auch ohne Bescheid eine Sozialkarte bekomme." Die zweite Kollegin widerspricht: "Das stimmt nicht. Das Arbeitsamt muss Ihnen bescheiden, dass Sie höchstwahrscheinlich einen Bescheid bekommen werden. Auf diesen Vor-Bescheid stelle ich Ihnen den Datenträger aus - vorläufig."

Herr W. geht zusammen mit dem müden Mann weg. Es regnet. Draußen ragt zwischen den Flachbauten ein riesiger Schornstein bedrohlich in den Himmel. Eine halbe Stunde später hält Herr W. seinen Antrag für den Telekom-Sozialtarif in Händen, und nach weiteren 45 Minuten endlich sein "Berlin-Ticket-S".

Alles geht schnell und unheimlich reibungslos. Auf der Sozialfahrkarte steht auch: "Berechtigungsausweis für etwaige andere Vergünstigungen". Unwillkürlich denkt er Herr W.: "Das ist mein Armenausweis. Jetzt bin ich arm, staatlich anerkannt." Der Mann am Fahrkartenschalter gibt noch eine Mahnung auf den Weg: "Sie müssen aufpassen. Mit der Sozialkarte dürfen Sie nur in den Zonen A und B fahren. Für die Zone C benötigen Sie einen Normalfahrschein ABC, ohne Ermäßigung."

Silvester. Das alte Jahr 2004 geht zu Ende. Am Vormittag klingelt es: Draußen steht sein Kollege aus längst vergangener Zeit, der immer zum Frühstück Bouletten aß. "Man geht nicht mit Schulden ins Neue Jahr", sagt er und gibt Herrn W. die vor Wochen geliehenen 20 Euro zurück. Dazu noch eine Flasche Rotkäppchen-Sekt.

"Mensch, nein. Du hast doch selber nichts." - "Doch, ich bin verlegt worden, jetzt zahlt das Grundsicherungsamt."

Herr W. erschrickt: Mein Gott, Grundsicherungsamt. Sein Kollege ist - so jung noch - auf Dauer erwerbsunfähig. Auf der Stufenleiter des Sozialstaats ist das noch eine kleine Stufe unter ihm, denkt er.

Mittags bringt Herr W. den Müll weg und leert seinen Briefkasten, zum letzten Mal im alten Jahr. Keine Neujahrsgrüße wie sonst üblich, sondern ein Brief, ein Brief vom Arbeitsamt. Herr W. rennt zu seinem Küchentisch. Will das Amt sich von ihm verabschieden? Will das Amt für die Zukunft alles Gute wünschen und ihm mitteilen, wo 2005 das Amtsgebäude zu finden ist? Stellt sich vielleicht sogar seine neue Fallmanagerin vor?

Aber es ist nur die Entgeltbescheinigung für die Arbeitslosenhilfe 2004. Das Schriftstück wird sauber abgeheftet. Es passt gerade noch in die Akte, die er seit zehn Jahren führt: "Leistungsbescheide / Arbeitslosengeld / Arbeitslosenhilfe". Am Neujahrstag wandert sie in den Keller. Das Jahr 1 der neuen Zeitrechnung kann beginnen.


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Diese Stille vor Raum 598

HARTZ IV ZWISCHEN DOSENPFAND UND FALLMANAGER
Im Alltag verliert Herr W. seine Menschenwürde und im Amt seine Betreuerin

Vorboten der neuen Epoche im Leben des Herrn W. zeigten sich bereits im vergangenen Jahr: ein Geschäftsführer namens Teufel bat zum Ein-Euro-Job, das Arbeitsamt war unerreichbar, und die Gespräche mit seinen Bekannten hatten nur noch ein Thema. Seit dem 1. Januar muss er nun jeden Tag mit Hartz IV fertig werden - nichts bleibt, wie es war.

Das Jahr 1 der neuen Zeitrechnung beginnt für Herrn W. wie das alte endete: Es geschieht nichts. Niemand will ihn sprechen, niemand will mit ihm eine Eingliederungsvereinbarung schließen, niemand bietet ihm eine Arbeitsgelegenheit an. Das Amt hüllt sich in Schweigen. Immerhin - sein Arbeitslosengeld II kommt pünktlich.

Dennoch genügt eine einzige Änderung, um alles zu verändern. Herr W. verfügt nämlich kalendertäglich über zehn Euro weniger als vor Hartz IV. Glitt er vorher mit einem geringen Plus in den nächsten Monat, so vermeint er jetzt zu hören, dass im Innern seines Daseins seine höchstpersönliche Schuldenuhr zu ticken beginnt. Tack, tack, tack, tack - alle 85 Sekunden verschwindet ein zurückgelegter Cent.

Man muss wissen, dass Herr W. ein Dasein ohne Sicherung und Sicherheit verabscheut. Nicht umsonst war er Versicherungskaufmann. Angst befällt ihn nicht erst dann, wenn sein Dispo-Kredit zum Zuge kommt. Wenn er kein Mittel findet, den Schwund seiner Rücklagen aufzuhalten, kann er sich ausrechnen, wann der Null-Punkt erreicht sein wird. Verarmung, Sterben in Raten, ein Leben aus Suppenküchen und Kleiderkammern.

Grauenhafter ist für ihn nur noch die Aussicht, seine kleine Wohnung zu verlieren. Verlust des Westblicks auf die untergehende rote Sonne. Verlust des Balkons, auf dem im Winter Spatzen und Meisen herumhüpfen und im Sommer Tomatenpflanzen wuchern. Herr W. hatte aufmerksam gelesen, dass er nur einen Zuschuss für die Kosten seiner Unterkunft erhält. Dieses Wort klingt wie Notbehelf, Baracke, Lager. Die Schuldenuhr tickt, und das Wort Unterkunft geht ihm nicht mehr aus dem Sinn.

Herr W. lebt jetzt in einer Welt, von der er bislang nur geahnt hatte, dass es sie gibt. Nicht nur er selbst, auch die Dinge um ihn herum verändern sich. Im Bus steckt er sich eine säuerlich-stinkende Bierflasche in die Tasche, nur um acht Cent Pfand zu kassieren. Dann trägt er die Briefe aus, deren Adressaten er fußläufig oder per Tram und Bus erreichen kann. Er klebt Kaiser´s "Rote Treueherzchen", schafft aber, trotz vermehrter Einkäufe, nur 34 Herzen, was nicht für die erstrebte Backform reicht. Stattdessen bekommt er zwei hässliche Schüsselchen. Er beginnt, seine Menschenwürde zu verraten.

Eines Tages tritt er auf den Bürgersteig, und vor ihm steht - verlassen - ein NETTO-Einkaufswagen. In der vergangenen Epoche wäre ihm das ein Zeichen menschlicher Verwahrlosung gewesen. Man ärgerte sich und ging weiter. Doch nun spricht Herr W. zu sich selbst: "Der Wagen birgt in seinem Verschluss eine 1-Euro-Münze. Ich brauche fünf Minuten, um ihn zum Einkaufsmarkt zu schieben, ein Euro Verdienst für fünf Minuten Arbeit." Mit hochrotem Kopf schiebt er den laut ratternden Wagen dem Supermarkt entgegen. Als der Verschluss einrastet, springt ihm ein 20-Cent-Stück entgegen. Herr W. nimmt die Münze, geht weg und schämt sich sehr. Von Ferne blickt ihn der Verkäufer eines Straßenmagazins an. Ein Hahn schreit nicht.

"Wir alle wissen nicht, was nächstes Jahr sein wird. Werden Sie nicht vorher gerufen, dann kommen Sie kurz vor Ostern vorbei, direkt zu mir - fünf Monate Meldefrist, wie immer." An diese Worte seiner gestressten Arbeitsvermittlerin, gesprochen im vergangenen Herbst, erinnert er sich gut. Da ihn niemand rief, steht er nun also vor Ostern in der Anmeldeschlange. Ob verbittert oder gleichmütig - diskreten Abstand halten sie alle.

"Kann ich meine Arbeitsvermittlerin sprechen; es geht um meinen Meldetermin; es ist so vereinbart."

"Wir haben etwas umstrukturiert, ihre frühere Betreuerin ist nicht mehr bei uns. Geben Sie mir Ihre Kunden-Nummer." Die Sekunde der Wahrheit ist gekommen: "Sie fallen ja unter das Arbeitslosengeld II. Das ändert alles. Wir sind nur noch für das ALG I zuständig. Melden Sie sich im hinteren Haus, rechter Eingang, fünftes Obergeschoss."

Hinteres Haus, ein deutliches Signal - Herr W. gehört nicht mehr zur ersten Kategorie der Arbeitslosen. Zum letzten Mal, nach zehn Jahren, setzt er sich auf einen vertrauten Platz, sieht und hört, wie altbekannte Vermittlerinnen auftauchen und - lächelnd, zuvorkommend, fast zärtlich - immer neue Namen aufrufen, um dann mit den Klienten im Off einer Warte-Welt zu verschwinden, die nicht mehr die seine ist. Die Guten vorn, die Schlechten hinten - Herr W. fühlt sich gedemütigt.

Aber so boshaft ist das Amt nun doch wieder nicht. Sein Argwohn hat ihm einen Streich gespielt. Erst jetzt bemerkt er, dass auch die zweite Liga der Arbeitslosen im Vorderhaus noch vorsprechen darf, wenn sie zur ersten Hälfte des Alphabets gehört. Ganz oben, im ranghöchsten, fünften Obergeschoss des Vorderhauses - dort, wo ehedem die Vermittlung für Fach- und Hochschulberufe residierte - wird nun Hartz IV mit den Anfangsbuchstaben H bis L verwaltet, im dritten Stock - zwischen zwei ALG-I-Etagen geschoben - sind die Buchstaben A bis G untergebracht, und im Erdgeschoss grüßt der Wickelraum die nächste Erwerbslosengeneration. Leise sagt Herr W. dem Vorderhaus "Adieu" und die Bibel kommt ihm in den Sinn: "Fürchte Dich nicht! Wir werden Dich nicht fallenlassen! Du gehörst weiter zu uns!"

Beruhigt schreitet er die Treppen des hinteren Gebäude hinauf. Wieder ragt das Niedrigrangige gen Himmel, das Hochrangige aber neigt sich der Erde zu. Vorbei am Wickelraum für ALG-II-Bezieherinnen durchquert Herr W. das Stockwerk des "Ärztlichen Dienstes". Kein Patient, nirgends. Patientenleere. Aus den Büros blicken ihn Ärzteaugen an: "Wen suchen Sie?" - "Niemand." - "Aha." In der dritten Etage, dort wo der "Arbeitgeberservice" zu Hause ist, sind keine Unternehmer, nirgendwo. Arbeitgeberleere. Aus den Büros blicken ihn Service-Augen an: "Wen suchen Sie?" - "Niemand." - "Aha."

Im vierten Obergeschoss findet Herr W. dann Seinesgleichen, jene mit den Buchstaben M bis R, um schließlich - ganz oben, im fünften Stock - bei sich selbst, in seinem Amtsbereich anzukommen. Neugierig schaut er sich die Wartenden an, etwa 20 mögen es sein. Einige übergewichtig, breitschultrig, in Lederjacken mit riesigen Denim- und Hilfiger-Labels, andere unscheinbar und graugesichtig und manche sympathisch, aufgeschlossen, strahlend geradezu. Eine Frau läuft nervös hin und her, immer aufs Neue ihre wenigen Aktenblätter ordnend. Eine Mitarbeiterin schiebt unsicher grinsend einen riesigen Rollwagen voller Akten. Einige wenige lesen oder spielen mit ihren Handys herum, der Rest starrt in Nuancen des Apathischen vor sich hin.

Und dann dieser Drucker, der beständig Stellenangebote auswirft: drööhht ... ratsch ... hidi .. hidi ... drööhht ... ratsch ... kiwitt ... kiwitt ... drööhht ... ratsch. Herr W. kann ihn singen, den Sound der Wartezonen. Aber jetzt ist er anders, ununterbrochen-laut und so nah. Er bemerkt: Die jungen Männer suchen gar keine Stellen, sie spielen. Die Computer sind ihnen Spielkonsolen, und das Summen, das Rattern des Druckers verkürzt die Zeit.

Bei der Anmeldung steht die ALG-II-Schlange dicht gestaffelt, ohne Abstand, ohne Diskretion. Als er dran ist, fragt Herr W. nach seiner Frau R.

"Nein, Frau R. ist nicht im Team und überhaupt: Es gibt niemanden, der speziell für Sie zuständig wäre. Zuständig ist, wer da ist und gerade Zeit hat. Aber auch die Zusammensetzung des Teams wechselt ständig. Ich kann Ihnen immer nur sagen: vielleicht die oder der."

Vielleicht die oder der - was soll Herr W. damit anfangen? Diese Auskunft übertrifft seine schlimmsten Befürchtungen. Er ist entsetzt, nimmt sich ein Herz und widerspricht: "So viel ich weiß, wurde mir eine feste Fallmanagerin zugeteilt, und eben die will ich sprechen."

"Das Team 560 ist nicht nur für Sie, sondern für viele da."

"Ich habe einen Meldetermin. Bei wem soll ich mich melden?"

"Einen Meldetermin gibt es längst nicht mehr. Sie können nach Hause gehen. Der Fallmanager ruft sie an; aber nur, wenn er eine Stelle anzubieten hat, und das passiert selten. Wenn Sie eine Arbeitsgelegenheit gefunden haben, müssen Sie mit diesem Formular ein Gespräch beantragen. Dann warten Sie - es ruft Sie jemand zurück, spätestens innerhalb von 14 Tagen."

Neben Herrn W. beklagt sich nun eine weitere Stimme: "Ich warte schon zwei Stunden - warum geht das so lange?" Doch die Anmeldefrau kennt keine Gnade: "Sie wollen Geld, also müssen Sie warten."

Wenn er schon umsonst hier ist, so denkt sich Herr W., will er zumindest wissen, wer zum Team 560 gehört. Im Gang zählt er 22 Namen möglicher Fallmanager und Fallmanagerinnen. Er wird misstrauisch und steigt hinab in die vierte Etage. Auch hier steht an sämtlichen Büros: Team 560. Herr W. drängt zur Anmeldung: "Ihre Kollegin vom fünften Obergeschoss sagte, ich hätte im Team 560 keine feste Ansprechpartnerin. Stimmt das?" - "Nein, das stimmt nicht. Ihr Fallmanager ist Herr F., Raum 598."

Den will er jetzt sehen, diesen Herrn F., seinen allmächtigen Fallmanager, der ihn verwaltet, der entscheidet, ob, wo und wann er arbeiten muss, ob, wann und wohin er in Urlaub fahren darf, der ihn rufen oder wegschicken, der ihn quälen, strafen oder freisprechen kann. Aber vor dem Raum 598 warten schon zwei von Seinesgleichen. Er stellt sich hinter sie.

Fallmanagerinnen huschen an ihm vorbei. Einige erinnern ihn an Frau R., bei ihnen könnte er sich wohlfühlen. Andere irritieren ihn, er meint, an ihnen etwas Türsteherhaftes zu bemerken, ununterscheidbar von manch einem der Wartenden, verwirrend, weil ihm ein solcher Vermittler-Typus noch nie zuvor begegnet war. Laut schreit eine: "Die Nummer 97, bitte". Als die Nummer 97 sich nicht meldet, wird sie noch lauter: "Die Nummer 98, bitte". Nummern regieren, Namen scheinen getilgt.

Vor dem Zimmer 598 ist es dann merkwürdig still. Nach 20 Minuten fragt Herr W.: "Warten Sie auch auf Herrn F.?" - "Nein." - "Ich dachte, weil Sie hier stehen, würden Sie auf ihn warten." - "Wir stehen nur zufällig hier." Herr W. wagt nicht, an F.´s Tür zu klopfen. Er fragt eine Mitarbeiterin, die vorüberhastet und eher sympathisch aussieht: "Ist Ihr Kollege F. zu sprechen?" - "Leider nein - er ist auf Lehrgang."

Herr W. gibt auf und geht nach Hause. Endlich hat er die Wahrheit begriffen, die er so lange nicht verstand, obwohl sie das alte Amt immer schon klar ausgesprochen hatte: "Sie bekommen ALG II. Das ändert alles."


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Der freiwillige Herr W.

ALG II
"Arbeit" und "Beschäftigung", Neigung und Pflicht - ein amtlicher Irrgarten. Am Ende ein Fahrraddiebstahl

Wetzlar, 1. August 1972, Leitz-Werke, Maschinensaal:Herr W. schaut auf die große Werksuhr. Heute wird er Punkt 16.30 Uhr das Werksgelände verlassen. Zufrieden betrachtet er sein Tagwerk: 33 Ringe - drei Serien à elf Stück -, güldene Messing- und schwarzblaue Edelstahlringe, 10 und 20 mm Durchmesser, geschrägt, auf zwei Hundertstel Millimeter genau gedreht. Herr W. dreht nämlich Kleinstserien für die Leitz-Forschung - an einer mit Handkreuz bedienten Revolverdrehmaschine, uralt und für die Ewigkeit gebaut. Er säubert den Revolverkopf, den Querschlitten und Mehrfachmeißelhalter, fegt die Späne aus der Fangschale, bringt die Ringe zur Endkontrolle und die Inneneck- und Abstechdrehmeißel zum Schärfen und schließt seinen Innen- und Außenmessfühler samt Tiefenlehre und Drehherz ein. Zehn Minuten vor Betriebsschluss betritt Herr W. den Betriebshof. Vor dem Betriebstor warten schon bestimmt 200 KollegInnen. Sekündlich werden es mehr. Das schwere Eisengitter ist heruntergelassen. Die anschwellende Menge steht locker über den Hof verteilt. Je mehr halb Fünf herannaht, desto näher drängt sie zum Gitter. Noch zwei Minuten: Eine riesige Menschentraube hängt am vergitterten Ausgang. Herr W. hält sich abseits. So eilig hat er´s nicht. 16.30 Uhr! Die Betriebssirene heult, der Werkschutzmann kommt aus seinem Kabuff, schiebt sich zum Tor vor, der Elektromotor surrt, das Tor hebt sich ratternd. Die Menge drückt geballt nach vorne, die erste Reihe bückt sich, schlüpft kopfvor unten durch, rennt zum Parkplatz, reißt die Autotüren auf und rast mit quietschenden Reifen davon; Hunderte im Laufschritt hinterher - sie reißen den üblichen Flugblattverteilern ihre maoistischen und trotzkistischen Betriebszeitungen aus der Hand. Verteiler rennen seitlich mit, verteilen in die rennenden Reihen, rennen zurück und wieder mit. In drei Minuten ist alles vorbei. Dann schreitet Herr W. durchs Tor in seine freie Zeit.

Vierunddreißig Jahre später. JobCenter Berlin, 1. August 2006, draußen vor der Tür: Herr W. hat mit seinem Ansprechpartner auf acht Uhr terminiert. Das Umsteigen geht nahtlos, und so steht er um 7.30 Uhr - viel zu früh - vor dem abgeschlossenen JobCenter-Eingang. Dort warten schon 20 Erwerbslose, und minütlich werden es mehr. Den üblichen anarchistischen Flugblattverteiler ignorieren alle. Viertel vor Acht drängen sich 80 Erwerbslose vor der Dreh- und Eingangstür. JC-MitarbeiterInnen schieben sich ihrem Schreibtisch entgegen, in engster Tuchfühlung zu den erwerbslosen Leibern: "Bitte, lassen Sie mich durch, bitte!" Man lässt sie durch. Wehe denen, die zu pünktlich sind: Um fünf vor acht Uhr gibt es kein Durchkommen mehr. Herr W. hält sich abseits. So eilig hat er´s nicht.

Jenseits der Glasfront drei Sicherheitsleute. Jetzt rutscht der Zeiger auf acht Uhr, keine Sirene ertönt, der Sicherheitsdienst bewegt sich - ein Ruck geht durch die Menge, er steigt zu den Türen hinab, schließt auf, weicht zurück, die Türen geben nach, die Wartenden stürzen in die Türen hinein, rennen die Treppe hinauf, nehmen zwei, drei Stufen auf einmal. Hin zum zentralen Empfang stürzen sie und in ihre Eingangszonen. Die vierzellige Drehtür dreht sich schnell und unablässig - wusch, wusch, wusch -, pro Drehtür-Zelle trippeln drei Kunden nebeneinander im schnelldrehenden Rund bis hin zur erlösenden Öffnung, um dann mit dem Strom von der Türe her hinauf zu hasten. In Sekunden ist alles vorbei. Herr W. - angelernter Dreher a. D., Band- und Sachbearbeiter a. D. - durchschreitet als Letzter den Eingang.

Herr W. will seinen Ansprechpartner treffen, und sein Besuch hat einen tiefen Grund: Das neue Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende tritt heute in Kraft. Lange schon grübelt Herr W. über den Neuerungen. Die Sanktionen für Arbeitsverweigerer - erstmals bis null Euro möglich - erschrecken ihn, aber er sucht ja eine Stelle, und sein Ansprechpartner würde ihn zu keiner Arbeit zwingen, die er verweigern müsste, glaubt Herr W.

Tief trifft ihn, was sich in punkto Bedarfsgemeinschaft ändert. Herr W. bekommt nämlich seit vielen Jahren des Öfteren Besuch: von seiner lieben Freundin. Zwar wohnen sie getrennt, aber selbst wenn er mit ihr zusammenwohnen würde, hätte bis heute das Amt beweisen müssen, dass dem so ist; ab heute müsste er dem Amt beweisen, dass dem nicht so ist. Und Kontrollbesuche sind jetzt nicht nur erlaubt, sie sollen sein, auch unangemeldete.

Wenn seine Freundin kommt, zieht sie immer ihre Schuhe aus und stellt sie ins Treppenhaus. Jedermann sieht: Sie ist da. Eines Tages erwischt sich Herr W. dabei, wie er die Schuhe wegnehmen und in die Wohnung stellen will. Er schämt sich. Es klingelt, er öffnet reflexhaft, ärgert sich über seinen Reflex, jemand steigt - tapp, tapp, tapp - die Treppe hoch. Herr W. gerät in Panik, bildet sich ein, dass gerade jetzt ein Kontrolleur käme, und der sähe dann die Damenschuhe, und er müsse beweisen, dass sie nur auf Besuch sei. Als dann auch noch seine liebe Nachbarin - wie immer - ihm und "Ihrer Frau" einen "Schönen Tag" wünscht, versäumt er den Gegengruß, es fährt durch seinen Kopf: Was, wenn der Kontrolleur die Nachbarin befragte? Soll er mit ihr reden und sagen, dass sie nicht seine Frau sei?

Der Anlass für seine Vorsprache beim JobCenter ist ein anderer. Herr W. hat nämlich eine Idee, wie er sich unter dem Fortentwicklungsgesetz fortentwickeln könnte, und die kommt ihm, als er liest, dass auf die Neuen im Club der ALG-II´ler ab dem 1. August ein drastischer Willkommensgruß wartet: ein Sofortangebot einer Arbeitsstelle oder Qualifikation, und zwar als Leistung zur Eingliederung in Arbeit. Also spricht er zu seinem Ansprechpartner: "Ich hätte gern ein Sofortangebot einer Arbeitsstelle oder Qualifikation gemäß § 15a SGB II." Für den Fall, dass er keine Stelle anbieten könne, würde er ihm eine nennen, eine selbstgeschaffene, gemeinnützige.

Der Ansprechpartner meint, das ginge nicht, weil Herr W. kein Neuer sei.

"Warum bekommen die Neuen eine Arbeitsgarantie und nicht die alten und uralten Kunden?" fragt Herr W.

"Wieso Arbeitsgarantie? Ich garantiere nicht Arbeit dem, der sie will. Ich biete Arbeit an, wenn ich kann, und die Annahme des Sofortangebots gehört zu den Pflichten der neuen Antragsteller", sagt der Ansprechpartner.

"Für mich als Arbeitsfreiwilliger ist der Anspruch auf ein Sofortangebot Dasselbe wie eine Arbeitsgarantie!"

Der Ansprechpartner sieht das anders: "Wenn der Antragsteller freiwillig mein Sofortangebot akzeptiert, ist er kein Arbeitsfreiwilliger, sondern erfüllt nur seine ihm per Gesetz auferlegte Pflicht."

Herr W.: "Wenn ich aber freiwillig und auf Dauer gemeinnützig arbeiten will, warum bin ich dann nicht dem Antragsteller gleichgestellt, der nur seiner gesetzlichen Verpflichtung, gemeinnützig zu arbeiten, nachkommt? Muss ich nicht sogar höher geachtet werden, weil ich ohne gesetzlichen Zwang handle?"

"Weil Ihre freiwillige Arbeit nicht als Integrationsleistung gewertet werden kann."

"Seit wann ist denn Gemeinwohlarbeit nicht gesellschaftsintegrierend?"

"Bei der Integrationsleistung geht es nicht um eine Integration der Gesellschaft, sondern um Ihre Integration in die Gesellschaft, und die geschieht durch Erwerbsarbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt! Ich erkenne diese Ausrichtung nicht, wenn Sie auf Dauer in einem Beschäftigungsverhältnis verharren wollen."

Herr W. sagt: "Was ich arbeiten will, ist für mich keine Beschäftigung; ich erledige vernachlässigte staatliche Aufgaben; was ich machen will, erledigten früher regulär Angestellte. Meine Stelle ist heute nur deshalb zusätzlich, weil die Regulären gestern wegrationalisiert wurden."

Antwort: "Ich verstehe unter Erwerbsarbeit das, was in einem regulären Arbeitsverhältnis geschieht, alles andere zählt als Beschäftigung, auch wenn es früher Erwerbsarbeit war."

Beide schweigen jetzt. Zögernd sagt der Ansprechpartner: "Gut, wenn Sie freiwillig auf dieser gemeinnützigen Stelle arbeiten wollen, dann können Sie das meinetwegen tun. Wir nehmen das als Eigenanstrengungen zur Wiedereingliederung in Arbeit in Ihre Eingliederungsvereinbarung auf. Das muss ich mir aber erst noch von oben genehmigen lassen."

Herr W. horcht auf: "Und wie steht es mit der Bezahlung."

Der Ansprechpartner, säuerlich, als ob Herr W. etwas beschmutzt hätte: "Wenn Sie freiwillig arbeiten wollen, kann ich Ihnen nichts bezahlen! Freiwilligenarbeit muss klar getrennt bleiben von den Zusatzjobs und anderen Beschäftigungsformen, entweder so oder so, keine Vermischung!"

Herr W. fühlt sein Blut wallen: "Wenn ich aber auf angebotenen Stellen meiner Arbeitspflicht nachkäme, dann würde meine Arbeit bezahlt werden?"

"Ja, sie würde bezahlt werden können, weil Sie dann unter dem Gesichtspunkt der Wiedereingliederung in den Ersten Arbeitsmarkt beschäftigt wären."

"Aber ich täte doch Dasselbe!"

Ja, aber sein Ziel sei ein anderes, sagt der Ansprechpartner, er wolle doch auf Dauer in einem öffentlichen Beschäftigungsverhältnis bleiben und aus Steuergeldern bezahlt werden.

Herr W., erregt: Erstens gebe es für ihn keinen Ersten Arbeitsmarkt, weil niemand sein Arbeitsvermögen kaufe, und zweitens: Er, der Ansprechpartner, würde doch auch auf Dauer in einem öffentlichen Amt arbeiten und Staatsaufgaben erfüllen, und bezahlt würde er aus Steuergeldern!

"Ja, das stimmt, aber ich erfülle sie regulär in einem Arbeitsverhältnis, weshalb das, was ich mache, keine Beschäftigung ist, sondern Erwerbsarbeit."

"Was aber, wenn Sie wegrationalisiert werden würden, und ich freiwillig dasselbe mache wie Sie?" fragt Herr W.

"Dann würden Sie das, was ich jetzt regulär arbeite, unbezahlt machen müssen, weil die Hauptvoraussetzung für eine Integrationsleistung fehlt, nämlich die Ausrichtung Ihrer freiwilligen Tätigkeit auf die Aufnahme einer Erwerbsarbeit."

Alles war gesagt und beide schwiegen.

Herr W. seufzt auf und will gehen. In des Ansprechpartners Brust ringen zwei Seelen, und jetzt springt er über seinen Schatten: "Also gut - das mit der Bezahlung Ihrer freiwilligen Beschäftigung werde ich prüfen, kommen Sie im September noch einmal vorbei."

Herr W. sitzt im Bus und fährt nach Hause. Hoffnungsfroh-enttäuscht starrt er durch die gescratchten Scheiben. Mitbürger sitzen verstreut im Fahrgastraum. Seine Heimathaltestelle naht. Einige stehen auf, drängen sich mit ihm um den Ausstieg. Da sieht Herr W. einen jungen Mann auf seinem Fahrrad - Grundvoraussetzung seiner erwerbslosen Mobilität - davonfahren. Erregt schiebt er sich zur Tür durch. Herr W. hat es eilig. Der Fahrer öffnet, fuuuuiiiiiiihhhh-pfotz, die Tür gibt nach, Herr W. stürzt aufs Pflaster hinaus und rennt mit großen Schritten, schlenkert die Arme und rennt und rennt - umsonst, sein geliebtes Fahrrad verschwindet am Horizont.


zum Anfang  

Der Aufstieg beginnt

Herr W. hofft auf ein Dasein ohne JobCenter und beginnt eine Karriere als Freiberufler

Die "Geschichten von Herrn W." schildern Erfahrungen eines Erwerbslosen mit Hartz IV, besonders seine Konfrontationen mit den zuständigen Behörden, in denen es regelmäßig zu kafkaesken Situationen kommt. Die "Geschichten von Herrn W." erscheinen seit 2003 in unregelmäßiger Folge.

Wenn nichts geschieht, kann das Ereignis nur durch die Briefträgerin kommen. Deshalb ist der Gehörsinn des Erwerbslosen auf die Geräusche seines Briefkasten gerichtet. Mühelos entziffert er dessen Botschaften. "Klapp! Ffft" heißt: "Ich habe Werbung für Dich." "Klapp, Flopp!" heißt: "Ich habe einen einfachen Brief für Dich." "Klapp, fluoppp!" heißt: "Ich habe einen dicken Brief für Dich!"

Vom vierten Stock aus hört Herr W., wie sein Briefkasten "Klapp, flopp" ruft. Herr W. eilt hinab. Ein Brief vom JobCenter: "Einladung zur Gruppeninformation BSC*." Was soll das nun heißen?

27 Alg II-ler versammeln sich beim BSC. Einer ist betrunken, sagt: "Ick hör´ mir det mal an. Det bringt nix. Aba kommst ´de nich, is det Jeld weg!" - Man lacht. Einer redet leise mit einem leeren Stuhl. Der Rest schweigt. Namen werden aufgerufen! "Hier!" "Hier!" Auch Herr W. sagt "Hier!" Neun Namen sagten nicht "Hier".

Wir machen gute Quoten

Der Herr vom BSC setzt sich auf den Tisch, schlenkert mit den Beinen: "Meine Damen und Herren: Das ist keine Bildungsveranstaltung. Wir vermitteln ausschließlich in den ersten Arbeitsmarkt. Wir machen gute Quoten. Aber (spöttisch): Wer lieber Bewerbungstraining oder einen Computerkurs will, kann das auch machen." - Stille. - "Wir betreuen Sie neun Monate, längstens! Individuell! 14-täglich, vierwöchentlich, sechswöchentlich, (grinsend) je nachdem. Machen Sie einen Termin! Jetzt!" Der Betrunkene steht auf, sagt: "Na, ja!", wankt weg. Herr W. macht sofort den Termin. Herr BSC: "Ich fülle Ihre Maske aus, und Sie erzählen mir was - ja?" Herr W. bemerkt den besonderen Ton, der bedeuten soll "Fassen-Sie-sich-kurz-ich-habe-keine-Zeit-denn-Zeit-ist-Geld". Seine Geschichten erzählt er, fühlt, wie Herr BSC hellhörig wird; flau im Magen wird ihm. Der rastert ihn durch - auf Vermittlungschancen. Der bekommt Kopfprämie. Der wird ihn irgendwohin vermitteln; unglücklich wird er dort sein; er muss ja alles annehmen. "Wir sehen uns 14-täglich; sie berichten; ich helfe!" sagt Herr BSC. Im Stillen fragt sich Herr W.: Sind die 14-täglichen die Marktfähigen und die Sechswöchigen die "Arbeitsbehinderten"? Dann sagt er: "Ja", aber denkt für sich: Niemals.

Dank BSC hat sich Herr W. seiner Fähigkeiten und seiner Freiheit erinnert. Die Angst vor dem Ergriffenwerden entfaltet seine Kraft zum Sprung ins Frei-Berufliche. Er geht zu den Infotafeln seines JobCenters. Dort prangt in roten Lettern: EINSTIEGSGELD! Selbstständigkeit aus ALG II! Herr Wolf vom Bildungshaus "Sokrates"* will ihm helfen.

Einige Tage später ruft sein Briefkasten wieder "Klapp-flopp": "Meiner Einladung zur Maßnahme BSC sind Sie nicht nachgekommen." Strafe: Drei Monate lang zehn Prozent Absenkung der Regelleistung von 345 Euro. Unfassbar! Herr W. greift zum Hörer, protestiert. Callcenter: "Wir geben Ihre Information weiter."

Man muss sich Herrn W.s JobCenter wie eine Festung vorstellen. Drinnen sitzen die Ansprechpartner. Sie sind niemals direkt ansprechbar. Dafür sorgt die Festungsorganisation. Callcenter schützen sie vor Telefonaten; eine anonyme Team-Nr.@Adresse vor E-Mails; ein Geflecht von Empfangs- und Eingangszonen vor persönlichem Kontakt. Hat der Erwerbslose sein Anliegen vorgebracht, muss er auf den Ruf warten. Irgendwann kommt er. Diesmal beschleunigt Herr W. den Ruf; er geht in die Eingangszone seines Jobcenters. Man muss sich eine Eingangszone wie eine Ausstülpung der Festung vorstellen. Man ist nicht mehr draußen, aber auch noch nicht drinnen. Ob man weiter hinein kommt, ist unsicher.

Sofern im Warteraum noch Plätze frei sind, sagt der eintretende Erwerbslose stets: "Wer ist der Letzte?" Irgendjemand antwortet: "Ich bin der Letzte!" Einmal sagte jemand: "Wir sind alle die Letzten!" Da der eigene "Letzte" immer irgendwo sitzt, muss man darauf achten, welcher "Letzte" gerade gerufen wird. Wenn man seinen "Letzten" verpasst, kann das jemand ausnutzen und sich vordrängen. Und weil man auch der Letzte vom nachfolgenden Letzten ist, bricht das System-der-Letzten zusammen. Deshalb mag es Herr W. lieber, wenn die 25 Plätze besetzt sind. Dann steht er in der Schlange vor der Eingangszone und muss sich nur den vor ihm Wartenden merken.

Man rückt schnell vor. Von allen Seiten rufen Mitarbeiterinnen: "Der Nächste, bitte." Im Warteraum sitzt eine Frau, die ständig vor sich hinsagt: "Der Nächste, bitte! Der Nächste, bitte." Sie verwirrt das System des Rufs, aber niemand beschwert sich. Hinter Herrn W. drängt sich eine komplette Hartz-IV-Familie: Mutter, Vater, Kind und Kleinstkind im Kinderwagen. Das Kleinstkind hat ein riesiges Spielzeughandy in der Hand. Immer wieder drückt es auf einen Knopf, der Kinderlieder als Klingeltöne abspielt. Dann spricht eine blecherne Stimme: "Wie geht es Dir?" Das Kind strampelt, juchzt und drückt erneut den Knopf: "Hänschen klein, ging allein, in den dunklen Wald hinein..." - "Wie geht es Dir?" Irgendwann ist Herr W. der Nächste-bitte. Die Mitarbeiterin erbarmt sich seiner Not; sie reicht ihn weiter in den Wartebereich der Leistungsabteilung. Jetzt steht er im Innern der Festung. Dort warten 32 Leute. Acht sitzen auf Stühlen, der Rest lehnt an der Wand, sitzt auf dem Boden, lagert auf der Treppe. Zwei Frauen flüstern miteinander wie beim Arzt. Drei dösen, einer schläft, der Rest starrt vor sich hin. Von Zeit zu Zeit erscheinen Ansprechpartner und rufen Namen.

Dann wird Herr W. abgeholt. Sein Ansprechpartner entschuldigt sich, die Kürzungsandrohung sei irrtümlich erfolgt: "Wissen Sie, das sind Bausteinbriefe, ich wollte Sie sprechen und habe statt auf die Einladungstaste auf die Kürzungsandrohungstaste gedrückt. Der Brief geht vollautomatisch raus." Herr W. nickt erleichtert: "Ich will mich als Freiberufler versuchen. Nehmen Sie mich aus BSC raus." Er überreicht ihm die Kurzbeschreibung seines Existenzgründungsvorhabens. Sein Ansprechpartner legt sie beiseite: "Sie wissen, ich glaube an Sie. Bringen Sie mir einen Kapitalbedarfs- und Finanzierungsplan, eine Umsatz- und Rentabilitätsvorschau auf drei Jahre und eine fachkundige Stellungnahme zur Tragfähigkeit. Ach ja, und einen Unfallversicherungsnachweis." Er gibt ihm elf Seiten Tabellen. "Das mit BSC geht klar."

Herr W. starrt hilflos auf die Formulare. Der Berater (tröstend): "Das versteht niemand. Sie brauchen fachliche Unterstützung." Herr W: "Aber Sokrates kostet 78 Euro, das ist zuviel. Geht es billiger?" - "Ja! Es gibt eine kostenlose, gemeinnützige Beratung." Aber der Berater darf sie ihm nicht sagen, wegen der Gleichbehandlung. - "Bitte, nur den Namen?" - Er zwinkert mit den Augen: "Ich muss mal kurz raus." Herr W. sieht einen Zettel auf dem Tisch liegen. Er erhebt sich und liest: "Horizonte"*.

Herr W. könne ein Jahr lang - vielleicht sogar zwei - mit nicht-rückzahlbarem Einstiegsgeld von mindestens 172,50 Euro monatlich rechnen und mit einem Zuschuss von 2.767 Euro, sagt eine engagiert-sympathische "Horizonte"-Frau. Bald hat er alle Unterlagen in der Hand, samt einer glänzenden Empfehlung: Das Unternehmenskonzept des Herrn W. sei "ausgereift"; es zeuge "von hoher Fachkompetenz, Motivation und Kreativität". Die Finanzplanung sei "größtmöglichst realitätsnah". "Selbstverständlich sollen eventuelle Überschüsse wieder ins Unternehmen fließen, um eine Insolvenz wegen mangelnder Liquidität zu vermeiden."

Sein Ansprechpartner im JobCenter überfliegt die Empfehlung, nickt zustimmend: "Ich werde sechs Monate Einstiegsgeld befürworten, fürs Erste." Wegen des Zuschusses übergibt er einen neunseitigen Antrag. Zuerst müsse Herr W. bei seiner Hausbank einen Darlehensantrag stellen (sie wird ablehnen), dann bei der Investitionsbank Berlin, die auch ablehnen wird, und dann bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau, die auch ablehnen wird. Danach könne er einen Zuschuss bewilligen - aber unter 1.000 Euro, notfalls müsse er Gebrauchtes kaufen. Die "Horizonte"-Frau schreibt empört einen Brief: Wenn die Negativbescheide aller drei Banken voraussehbar sind, möge man bitteschön den Zuschuss sofort gewähren. Der Ansprechpartner schweigt. Herr W. gibt auf. Der Zuschuss ist verloren.

Herr W. blüht auf

Herr W.s subventionierte Freiberufler-Karriere beginnt; Herr W. blüht auf; sein Konzept funktioniert; die ersten Honorare fließen. Aber der Hauptteil wird erst im Dezember hereinkommen; einige Auftraggeber zahlen zu festen Terminen. "Meine Überschüsse dürfen doch ins Unternehmen zurückfließen?" fragt Herr W. - "Das regelt die Leistungsabteilung." Die hat eine klare Meinung: "Wir behandeln Ihren Zuverdienst nach dem Zuflussprinzip." Der große Betrag vom Dezember wird nicht, wie es das Finanzamt bei jedem Selbstständigen praktiziert, auf ein Kalenderjahr umgelegt. "Wenn im Dezember 1.900 Euro zufließen, bekommen Sie einen Freibetrag von 100 Euro, von 101 bis 800 Euro bleiben bei Ihnen 20 Prozent, von 801 bis 1.200 Euro bekommen Sie zehn Prozent; alles über 1.200 Euro - also 700 Euro - wird voll mit Ihrem Januar-ALG II verrechnet. Sie bekommen also im Januar kein Arbeitslosengeld." - "Wieviel bleibt mir?" - "Von Ihren 1.900 Euro verbleiben Ihnen 280 Euro." - Stille. - Der aufgeblühte Herr W. sinkt zusammen: "Aber Sie wollen doch mit dem Einstiegsgeld meine Anstrengungen fördern, ein Leben aus eigener Kraft zu führen? Wie soll mein Unternehmen liquide werden, wenn Sie mir meine Überschüsse wegnehmen?" Die Leistungsabteilung zuckt mit den Schultern: "Ich muss nach Rechtslage entscheiden."

Herr W. rafft sich auf und ruft die Hotline der Bundesagentur für Arbeit an: "Wenn ich mehrere einzelne Aufträge Monate später auf einen Schlag bezahlt bekomme, dann müsste doch diese einmalige Zahlung über den Zeitraum meiner Dienstleistung gestreckt werden", sagt Herr W. Das könne man zwar so sehen, sagt die Hotline-Stimme, sie sehe den Betrag aber als laufende Zahlung, die voll mit dem ALG II verrechnet werden muss. Herr W. erwidert: "Wenn nun die 700 Euro, die über der Zuverdienst-Höchstgrenze von 1.200 Euro liegen, in den Januar übertragen werden, dann verwandelt sich das Einkommen in Vermögen - oder?" - Die Hotline schweigt. Herr W.: "Stellte ich im Januar einen ALG II-Antrag, so würde doch mein Dezember-Einkommen als Vermögen betrachtet werden - oder?" - Das sehe sie nicht so, sagt die Hotline, "Einkommen bleibt Einkommen!" Herr W. legt auf und ruft bei der nächsten Hotline an, der des Ombudsrats**. Die Stimme am anderen Ende vergewissert sich bei der Vorgesetzten und spricht: "Gemäß Paragraph 2 Absatz 2 Einkommensverordnung handelt es sich um eine einmalige Zahlung, die gestreckt werden kann, unseres Erachtens auf sechs Monate." Herr W. atmet auf. Aber nicht der Ombudsrat rechnet seinen Zuverdienst ab, sondern seine Leistungsabteilung. Dann kommt ihm ein Gedanke: Wenn das Zuflussprinzip regiert, dann regiert auch das Abflussprinzip. Zur Rettung seine Daseins ohne JobCenter wird er all das kaufen, was er sowieso irgendwann braucht - jetzt im Dezember. Er wird so lange einkaufen, bis 500 Euro übrig bleiben. Dann wird er seine Betriebseinnahmen und Ausgaben auf sechs Monate strecken.

*Name geändert.
**Der Ombudsrat zur Beobachtung der Hartz IV-Reformen arbeitete von Dezember 2004 bis Juli 2006.

Ein paar klärende Sätze

Ich muss nicht Verständnis aufbringen für die Sorgen und Ängste von Menschen, die offenbar zu kalt und gefühlsverarmt sind, um zu erkennen, welche Ängste ihre instinktlosen Demonstrationen bei Flüchtlingen und Einwanderern auslösen.

Ich muss nicht verstehen, warum Jahre nach dem Mauerfall Menschen gegen Ausländer auf die Straße gehen, nur weil sie nach über zwei Jahrzehnten nicht kapiert haben, womit Deutschland sein Geld und seinen Wohlstand verdient: mit Internationalität.

Ich muss nicht ertragen, dass eine Demonstrantin in Dresden in die Kamera spricht: “Wir sind nicht ’89 auf die Straße gegangen, damit die jetzt alle kommen” während sie so aussah, als sei sie ’89 nur auf die Straße gegangen, um bei ihrem Führungsoffizier die zu verpfeifen, die wirklich gingen. Diese Demonstrationen “Montagsdemonstrationen” zu nennen, ist eine weitere Instinktlosigkeit gegenüber denjenigen, die ’89 für Freiheit und offene Grenzen auf die Straße gingen.

Ich muss nicht akzeptieren, dass Menschen, die seit Jahrzehnten direkt und indirekt Transferleistungen in bisher ungekannten Höhen entgegengenommen haben, nun nicht einmal Flüchtlingskindern ein Dach über dem Kopf gönnen.

Ich muss nicht wie CSU und manche in der CDU die Fehler vor allem dieser beiden Parteien aus den 60er bis 90er Jahren wiederholen und diesen eiskalten Demonstranten auch noch verbale Zückerchen zuwerfen – von AfD und der anderen braunen Brut ganz zu schweigen.

Ich muss nicht christlich sein zu Menschen, die angeblich die christliche Tradition verteidigen, um dann ausgerechnet zur Weihnachtszeit Hass und Ausgrenzung zu predigen.

Ich muss nicht nach Ursachen suchen, um den niedersten Instinkt, zu dem die menschliche Rasse fähig ist, zu erkennen: Das Treten nach unten und das Abwälzen persönlicher Probleme und Unfähigkeiten auf willkürlich ausgewählte Sündenböcke.

Ich muss nicht ertragen, dass Menschen, die seit Jahren den Hintern nicht bewegt bekommen, ausgerechnet dann aktiv werden, wenn es gegen Minderheiten geht.

Ich muss nicht daran erinnern, dass die deutschen sozialen Sicherungssysteme jedes Jahr Milliarden EUR netto durch Einwanderer und deren Nachfahren eingenommen haben – und dass diese Gelder am Ende dem hetzenden Pöbel auch noch die Rente zahlen werden.

Ich muss nicht diplomatisch sein, sondern so, wie noch viel mehr Menschen in Deutschland sein sollten, offensiv:

Braune Brut von Deutschland: Ihr seid die Schande Deutschlands.
Unbarmherzig, hasserfüllt, menschenfeindlich und aus ganzem Herzen verachtenswert.

Welttaktgeber
Wer wissen will, wie diese Welt tickt.